An Bord der »Thunderbolt«, Flaggschiff der interplanetare Raumflotte
Bai, der taktische Offizier und Koordinator für Waffensysteme, streckte die Hand aus. Seine Finger landeten auf den hauchzarten Touchflächen seines Kommandopults. Präzision war das Gesetz seines Lebens. Jeder Tastendruck, jede Eingabe, jede Wahrscheinlichkeitsberechnung – musste fehlerfrei sein. Denn nur diese unerbittliche, technische Perfektion konnte das kleine, tiefe Geheimnis in seinem Stiefel, den sechsten Zeh am linken Fuß, vergessen machen. Der Makel, der die reine Kontrolle infrage stellte, war sein Motor.
Unter ihm pulsierte das Flaggschiff seiner Schwadron, die Thunderbolt, achthundert Meter bioorganische Hülle. Admiral Bertoldo Durante glitt in seinen ergonomisch geformten Stuhl. Die Brücke, ein kreisförmiges Auditorium aus Licht und Daten, wölbte sich über ihnen. Jede der abgestuften Ebenen trug ein präzise codiertes Farbschema, das im Normalbetrieb in kühlem, beruhigendem Blau schimmerte. Gedämpftes Licht fiel auf die gewölbten Bildschirme, an deren Fuß ergonomische Workstations mit Touchflächen und neuronalen Interfaces lagen. Hier steuerte die Crew kritische Systeme mit kaum mehr als einem Gedanken.
Draußen herrschte die kosmische Realität. Hinter dem Hauptschirm, der die Brücke fast vollständig umschloss, brodelte das Sternenmeer. Kein stiller Ozean, vielmehr ein Ort schneidenden Windes, der unter einem brennenden Stern fegte. Die Thunderbolt trotzt diesem Vakuum, stabilisiert durch ihre lebendige Hülle, die in diesem Moment einen leichten, metallischen Geruch von ozonisierter Energie abgab – der Geruch von Wachsamkeit.
Durante nickte, die Bewegung war kaum wahrnehmbar. Seine Augen, in die sich tiefe Erfahrung gegraben hatte, hafteten auf dem Hauptbildschirm. Er balancierte Kampf und Diplomatie gekonnt. Ein schneller Blick auf seinen persönlichen Bildschirm. Bai erhaschte nur einen flüchtigen Eindruck: Die holografische Darstellung eines jungen Mädchens, das ihm zuwinkte, bevor Durante mit einer blitzschnellen Handbewegung zum taktischen Display zurückkehrte. Der Admiral trug seine Menschlichkeit in einem fast unmerklichen Detail.
Die Routine herrschte, doch die Spannung blieb ein stetiger Grundton. Sie fuhren Patrouille in einem Sektor, der als »Grauzone Epsilon« bekannt war. Seit Wochen gab es Gerüchte über eine Spezies, die sich von den Rändern des bekannten Raumes heranschob.
»Navigation meldet Kursstabilität, alle Systeme im grünen Bereich.« Die Stimme der Navigationsoffizierin, Lieutenant Kaya, blieb klar.
Plötzlich änderte sich der Ton. Nicht durch eine Sirene, sondern durch einen stillen, sensorischen Schock. Die bioorganische Hülle schien einen tiefen Atemzug zu nehmen. Die metallische Pulmonation der Wände verstärkte sich.
Auf Bais Workstation – und auf allen anderen Workstations – wechselte die Codierung. Das kühle Blau kippte zu einem scharfen, dringlichen Bernsteingelb.
Ein harter Alarmton zuckte durch die Stille.
»Kontakt! Unidentifiziertes Objekt, Sektor 7-G!« Kayas Stimme klang jetzt gespannt. »Größe: massiv. Geschwindigkeit: über Lichtgeschwindigkeit. Es verlangsamt sich.«
Bai sah das Signal auf dem Hauptschirm. Kein kleines Schiff, keine Drohne. Ein Koloss. Dreimal so groß wie die Thunderbolt. Die Form war organisch, aber symmetrisch – keine bekannte menschliche oder feindliche Signatur. Das reine, unstrukturierte Auftauchen brach die gesamte Routine. Es war, als hätte jemand eine Statue mitten in einen Rennkurs gestellt. Die Inzidenz der Bedrohung war nicht die Kollision, sondern die Existenz des Objekts selbst.
»Energie-Signatur?« Durantes Stimme blieb kontrolliert.
»Unbekannt. Hohe Dichte, aber keine Waffensysteme identifizierbar. Es scheint sich abzuschotten.«
Bai konzentrierte sich. Seine Hände, die über das Touch-Interface glitten, blieben fest und ruhig. Die Angst vor dem Fehler, der Makel der Unvollkommenheit, musste jetzt mit fehlerloser Kontrolle bekämpft werden. Er rief die Waffensysteme ab. Die rot codierten Indikatoren der Fusionswerfer flackerten auf seiner Konsole. Sie warteten, bereit, in einer Millisekunde zu reagieren.
Das Schiff im All verharrte. Eine Stille, die lauter war als jeder Alarm.
Die Minuten dehnten sich, wurden zu Stunden. Bai tauchte in die Daten ein. Die feindliche Erscheinung lieferte keine Signatur, die sich in seine Präzisionsberechnungen einfügen wollte.
»Geschwindigkeit ändert sich. Das Objekt hält nun eine stabile Position. Es sendet... nichts.« Bai übermittelte die Analyse an den Admiral. Seine Arbeit musste makellos sein. Fehler gab es nicht. Er brauchte diese Gewissheit, sonst würde das kleine Geheimnis an seinem Fuß anfangen, im Kopf zu pochen.
Die gesamte Crew bewegte sich in einem Zustand kontrollierter Anspannung. Jeder Blick, jede Geste wirkte überhöht. Sie arbeiteten gegen die Stille, gegen das Unbekannte.
Durante blickte auf Bai, ohne eine Frage zu stellen. Das Vertrauen war spürbar. Bai musste eine Erklärung liefern.
»Ich leite die Ergebnisse aus Sektor 7-G an die Primär-Kommunikationssysteme um.« Er legte die linke Hand auf das neuronale Interface, die Gedanken fokussiert.
KNALL.
Das Licht auf der Brücke flackerte. Die bioorganische Hülle zog sich zusammen, stieß einen scharfen, fast bitteren Geruch von überhitzter Ozonsäure aus. Die bernsteingelben Warnlichter auf Bais Pult schrumpften auf Rot.
»Was war das?« Durantes Stimme wurde scharf.
»Energie-Fluktuation im Sektor der Primärsensoren. Nicht durch uns verursacht.« Kayas Stimme zitterte leicht. »Wir sind blind auf Gamma-Wellenlänge. Fünf Sekunden lang keine Positionsdaten.«
Fünf Sekunden. Im Weltraum die Ewigkeit.
Bais Herz hämmerte gegen die Rippen. Seine linke Hand, die das neuronale Interface fixierte, zögerte. Ein Fehler. Eine unbekannte Störung. Die absolute Kontrolle entglitt ihm.
Der Zeh. Der Makel. Die Fehlerquelle. Die Inkompetenz.
Der Gedanke zuckte blitzschnell durch seinen Verstand. Wenn er jetzt zögerte, wenn seine Berechnung durch diese Unsicherheit fehlerhaft wurde, würde es die Flotte kosten.
»Bai!« Durantes Stimme, ein scharfer Befehl.
»Ich stabilisiere die Schnittstelle.« Bai presste die Lippen zusammen. Seine Angst vor dem Fehler trieb ihn an. Er ignorierte die taube Kälte in seinen Gliedern und fokussierte die Energie des Waffensystems. Volle Kontrolle.
Er sah Kayas Display. Nur statisches Rauschen. Er spürte die Vibration der Thunderbolt. Ein Muster. Der Ruck der Hülle, als die Stabilisatoren die Energiefluktuation ausglichen. Er musste eine intuitive Korrektur vornehmen, basierend auf dem Gefühl der Schwingung, ohne die kalten, fehlerlosen Daten. Das war keine Perfektion, das war blindes Vertrauen in die Physik.
Bai schlug eine schnelle Sequenz auf das Touchpad. Zu schnell. Eine Eingabe zitterte ganz kurz – ein Hauch von Unsicherheit. Seine Hand schnellte zurück, fixierte die Daten.
»Datenstabilisierung abgeschlossen,« meldete er. »Die Fluktuation diente nicht als Waffe. Es war eine Impulsveränderung des Objekts, die unsere Sensoren überlastete. Es scheint, als würde es... sehen wollen.«
Durante nickte langsam. »Aggressives Manöver. Bereiten Sie die Fusionswerfer vor, Bai. Stufe Eins.«
Die roten Lichter auf Bais Pult intensivierten sich. Die Thunderbolt rüstete zum Kampf. Das bioorganische Material der Hülle begann, unter der Spannung zu pulsierten, die Wände gaben ein tiefes, resonierendes Summen ab. Die Crew atmete nicht.
Bai musste seine Intuition beweisen. Die Zahlen waren zurück, aber sie schrien immer noch nach Aggression. Das Unbekannte. Das Unkontrollierbare. Er sah, wie der Admiral die Hand hob, bereit, den Feuerbefehl zu geben.
»Admiral, die Impulsveränderung ist nicht auf eine Kriegshandlung ausgelegt,« sagte Bai, die Worte wogen schwer. »Das war ein Test. Es wartet auf eine Antwort. Unsere Funkkanäle sind offen. Es versucht, eine Verbindung herzustellen.«
Durante senkte die Hand, nur um einen Millimeter. Die Spannung in der Luft knisterte. Das kleine Mädchen auf dem persönlichen Bildschirm des Admirals warf einen Schatten über die kühlen Daten. Diplomatie gegen Kampf.
»Was ist Ihre Empfehlung, Bai?«
Bai blickte auf das fremde Schiff. Die perfekte, fehlerlose Technologie der Thunderbolt wartete auf seinen Befehl. Aber die Lösung lag nicht in der Perfektion, sondern in der Menschlichkeit. Das musste er akzeptieren, der Zeh, der Fehler, der ihm immer wieder die Präzision verwehrte.
»Senden Sie eine Nachricht. Eine menschliche Nachricht.«
Bai tippte die Nachricht ein. Er fühlte die Blicke der gesamten Brückenbesatzung auf seinem Rücken. Er ignorierte das laute Pochen an seinem linken Fuß. Jetzt zählte nur der Gedanke.
Er codierte eine universelle Grußformel, untermalt von den Koordinaten der Erde und des Mars. Dann, als seine Finger über die letzte Zeile glitten, lächelte er innerlich. Ein kleiner, subtiler Akt des Trotzes gegen seine eigene Perfektion.
Er fügte eine zusätzliche Zeile hinzu. Eine weihnachtliche Botschaft, die auf keiner militärischen Protokolldatei zu finden war: »Und möge dein Advent glänzen.«
Er drückte Absenden. Die Worte, die auf keiner Karte standen, gingen in die unendliche Dunkelheit.
Die Crew atmete aus. Die bioorganische Hülle beruhigte sich allmählich, das pulsierende Summen verflachte. Die bernsteingelben Lichter blieben, aber die scharfe Kante des Roten verschwand.
Fünf Minuten. Die Stille auf der Brücke wirkte wie ein greifbares Gewicht. Die Crew hielt den Atem an, wartete darauf, ob das erste fremde Wort ein Freund oder ein Feind sein würde.
»Es gibt eine Antwort!« Kayas Stimme knallte in die Stille. »Ein Signal, eine... Datenkaskade. Es ist keine Sprache, sondern eine mathematische Sequenz, untermalt von einem harmonischen Frequenzmuster.«
Bai sah die Sequenz auf dem Hauptschirm erscheinen. Unendlich komplex, aber eindeutig friedlich. Es war eine Einladung.
Dann geschah der Klimax.
Das große, unidentifizierte Schiff änderte seine Bahn. Es vollführte ein Manöver, das alle Gesetze der bekannten Gravitationsphysik ignorierte, eine sanfte, fließende Bewegung, die keine Aggression zeigte. Es näherte sich der Thunderbolt, stabilisierte die Position. Die bioorganische Hülle der Thunderbolt glühte nun sanft in einem warmen, neutralen Weiß.
Der Admiral lehnte sich zurück. Ein Blick auf Bai, der Anerkennung ausstrahlte. »Glückwunsch, Bai. Das war ein Tanz mit dem Unbekannten.«
Die Crew brach in erleichterte Gespräche aus. Die Spannung löste sich in einem Strom von Jubel. Sie hatten den Frieden gewählt, und der Frieden hatte geantwortet.
Später, bei der festlichen Live-Kochveranstaltung in der Hauptmesse der Thunderbolt, erfüllten Gerüche von Zimt, exotischen Gewürzen und gebratenem Synth-Fleisch die Atmosphäre. Die Crewmitglieder tauschten Gerichte aus ihren Heimatwelten aus. Die Umgebung badete in sanft funkelndem, festlichem Licht.
Bai beobachtete das muntere Treiben mit einem Lächeln. Lieutenant Kaya schritt auf ihn zu, in der Hand einen Teller mit einer dampfenden, curryartigen Speise vom Jupiter-Mond.
»Die Nachricht war gut, Bai. Sehr gut. Hat die Stimmung gerettet.« Sie zwinkerte ihm zu. »Aber ich habe gehört, du hättest noch einen Zusatz reingepackt. ›Möge dein Advent glänzen.‹ Wirklich, Bai? Du, der Präzisionsmensch?«
Bai wischte sich eine Schweißperle von der Stirn. Die Küche, so warm und chaotisch, kontrastierte wunderbar mit der kühlen Brücke.
Ein Kadett brachte einen Scherz über Bais Perfektionismus in die Runde. Er kicherte leise. »Wissen Sie, mit meinem kleinen anatomischen Vorteil…« Er tippte auf seinen linken Fuß, versteckt im Stiefel. »…verfüge ich über sechs Sinne. Einer davon ist für Humor, ein anderer für das unvollkommene Chaos. Manchmal braucht es das Unperfekte, um das Große zu sehen.«
Die Crew lachte laut. Es war nicht die Perfektion der Thunderbolt, die sie rettete, sondern Bais bewusste Entscheidung, seinen Makel, seine Menschlichkeit, in die Gleichung einzubringen.
An diesem Abend, als die Sterne draußen festlich funkelten und das Schiff in einem sanften Schimmer badete, lag die Wärme der Hauptmesse noch über Bai. Die Distanz, die er als Koordinator immer zwischen sich und der Crew hielt, war geschmolzen. Er war nicht nur ein Rädchen der Perfektion, er war ein Teil dieser lauten, verrückten Familie im glühenden Herzen des Alls.
Bai schritt zu seinem Quartier. Die Schwere des Stiefels spürte er nicht mehr als Last, sondern als einen ungewohnten, festen Anker. Der kleine, spezifische Druck an seinem linken Fuß – der sechste Zeh – war nicht länger das quälende Pochen des Makels. Dieser Unterschied, die sechs Sinne, die er soeben in die Wagschale geworfen hatte, hatte die perfekte, aggressive Berechnung überstimmt. Bai blickte nicht mehr hinab auf ein Geheimnis. Er ging mit seinem Fuß, fest im Universum verankert: einzigartig und stark.
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