An Bord des Raumschiffs Nova-3
Aminah Khalil ließ die Fingerspitzen leicht über die angeraute Oberfläche der Steuerkonsole gleiten. Die wirbelnd vor sich hinmurmelnden Zahlen gaben Halt. Das blieb ihre Welt, ihr Kosmos: Datenmuster, Koordinaten, Wahrscheinlichkeiten, Verschiebungen. Sie lebte für diese Klarheit, die das Unbekannte zähmte. Heute blieb es nicht anders. Die Nova-3, das ungewohnt kleine, aber erstaunlich vielseitige Forschungsschiff, schwebte in der Umlaufbahn eines unbekannten Asteroidenfelds. Im engen Arbeitsplatz eines Spezialschiffs wurde jeder Handgriff zu einer bewussten Aktion. Keine Zeit für Unachtsamkeit. Keine Sekunde für Zweifel.
„0,473 Grad Neigung, leichte Turbulenzen im Abschnitt Beta.“ Aminahs Stimme war ruhig, jeder Ton durchdrang das Cockpit mit einer Präzision, die ihren schnellen Verstand spiegelte. Neben ihr saß Adeline Stellar, die Pilotin und beste Freundin. Adeline hielt das Steuer fest in den Händen. Ihre Bewegungen wirkten zielorientiert, ihr Blick verriet dieselbe fokussierte Energie wie bei Aminah.
Die kleine Kabine – Wände links und rechts gesäumt von einem Sammelsurium an geologischen Geräten und Analyseflächen – strahlte eine Atmosphäre aus, die sterile Konzentration und persönliche Wärme verband. Aminah bewegte ihren athletischen Körperbau geschmeidig. Ihre braune Haut glühte sanft im blassen Licht der Instrumente.
„Wir nähern uns dem Asteroidengürtel.“ Adeline gab einen Kurs in den Panoramaschirm ein, der das gesamte Sichtfeld um sie herum füllte. Der Bildschirm zeigte das Dunkel des Feldes: Unregelmäßige, kolossale Felsen kippten, verrieten unentschlossene Gravitation. Große Brocken änderten unvermittelt ihre Umlaufbahn, und Staubschleier wirkten wie verzerrte Geister. „Bereit für den Tanz?“
Aminah lächelte, das Herz zögerte kurz. Navigieren blieb Kunst und Wissenschaft zugleich. Gerade dieses Dunkle, dieses unerforschte Feld, forderte jede Fähigkeit heraus. „Klar, solange du nicht erwartest, dass ich die Sterne tanzen lasse.“
Adeline zwinkerte knapp. „Vertrau mir, ich tanze besser, wenn deine Zahlen stimmen.“
In Aminahs Kopf summten Zahlenketten. Sie vermaß sorgfältig die Positionen der einzelnen Brocken, analysierte Bewegungen. Der süßlich-erdige Duft ihrer Alraune, ein kleiner, grüner Lebensspender von der Marskolonie, entspannte die Sinne – ein vertrautes Stück Zuhause. Sie trug die Pflanze in einem hermetisch verschlossenen Topf, festgezogen in der Halterung neben ihrem Sitz.
Sie blickte auf das Display. „Ich zähle die Rotation des größten Felsens. Zeit zwischen zwei Umdrehungen: drei Stunden, zwölf Minuten und vierzehn Sekunden.“ Die Instrumente registrierten ein leichtes, aber stetiges Schwanken im Magnetfeld. „Reichlich unentschlossen, was die Gravitation angeht.“
Die Konsole piepste leicht. Bauer, der Supervisor von der Mars-Akademie, meldete sich zu Wort. „Kadetinnen, großes Lob für die Daten. Die Flotte hat grünes Licht für die Erweiterung der Analyse bekommen. Vorbereitung für die erste Präsentation läuft.“
Adeline grinste. „Sie wachsen nicht nur, sie glänzen! Du, Aminah, bist für mich das Bestie im Zahlenwald.“
Aminah schob die Brille hoch. Die Falte zwischen den Augen zeugte von der Anstrengung, doch vor allem war da der Stolz. „Und du bist die Königin des Steuerrads, die uns sicher durch jede Kurve bringt.“
Trotz allem Humor blieb das Gewicht der Mission. Eine geologische Erkundung in einem unerforschten Sektor. Gefahr lag in der Tiefe verborgen. Unvorhersehbare Strahlen, Staubstürme, eine feindliche Umgebung, die jederzeit zuschlagen konnte.
Aminah murmelte weiterhin Zahlen, koordinierte Anzeigen, machte Vorschläge für die Präzision der Messinstrumente und wies auf marginale Abweichungen hin. Große Maschinen schenkten ihr Gehör. Rohe Daten flackerten plötzlich in der Bildsprache des Universums.
„Pass auf, gleich durch diese Wolke aus metallischem Staub,“ warnte sie Adeline. Der Staub schlug mit einem dumpfen Zischen gegen den Rumpf.
„Danke, Navi-Königin.“ Adeline hielt das Steuer fest. „Ich trau dir doch mein Leben an.“
Das dumpfe Zischen des Staubs verstummte, als die Nova-3 in das Herz der Wolke eintauchte. Aminah hielt den Atem an. Plötzlich registrierte der Hauptsensor einen scharfen, unnatürlichen Anstieg der Magnetfeldstärke. Der Fels, den sie gerade umflogen, kollabierte innerlich.
„Exponentielles Schwanken im Magnetfeld!“ Aminahs Stimme knallte hart gegen die Stille des Cockpits. „Adeline, 30 Sekunden, bevor der Kernfusionsofen wegen Sicherheitsabschaltung 5 Prozent Energie verliert.“
Adelines Augen weiteten sich, ihre Hände wurden weiß um das Steuer herum. Das Schiff geriet in eine scharfe Abweichung. Die Trägheitsdämpfer stöhnten. Ein metallisches Kreischen durchschnitt die Lebenserhaltung.
„Ich kriege den Kurs nicht mehr korrigiert, Aminah, die Steuerung antwortet nur noch mit Verzögerung!“ Adeline presste die Lippen zusammen. Sie versuchte, das Schiff mit schnellen, kurzen Impulsen zu stabilisieren, doch die Nova-3 schlingerte unkontrolliert.
Der Panoramaschirm drehte sich. Die Felsen des Asteroidenfeldes rotierten unkontrolliert. Aminah sah, wie die Navigationsdaten auf ihrem Display plötzlich weiß wurden, überlagert von statischem Rauschen. Die klare Linie, die sie navigierte, löste sich auf.
Verloren.
Der Schatten des Verlorenseins, der seit der Kindheit in den verwobenen Gängen der Marskolonie auf sie lauerte, schlug zu. Orientierungslosigkeit stieg ihr in die Kehle. Die Zahlenketten in ihrem Kopf, die bisher Sicherheit gaben, lösten sich in Chaos auf. Ihre Finger erstarrten über der Tastatur.
„Aminah! Zahlen! Was machen wir?“ Adelines Ruf klang durch den Raum, fordernd, aber nicht panisch.
Aminahs Herz hämmerte gegen die Rippen. Die Kälte des verlorenen Kindes umfasste sie. Sie blickte auf die Konsole, doch sie sah nur das weiße Rauschen. Ein Asteroid näherte sich, füllte das gesamte Sichtfeld. Zehn Sekunden bis zur Kollision.
„Daten weg! Ich muss die Berechnung intuitiv neu starten!“ Die Worte kämpften sich aus der Kehle. Eine riskante, intuitive Berechnung musste her, die gegen jede ihrer Regeln verstieß. Sie brauchte einen Anker.
Ihr Blick fiel auf die Alraune. Der Duft. Süßlich, erdig, Zuhause. Ein Hauch von Marsboden, von Stabilität.
Adeline löste die Hand vom Steuer. Sie tat es ruhig und bewusst, die Steuerung für einen Moment an die automatischen Notfallprotokolle zu übergeben, die sie sofort wieder überschreiben würden. Sie schlug die Handfläche hart auf das Gehäuse der Alraune neben Aminah. Klick. Der Topf zitterte kurz. „Deine Zahlen sind wirklicher als diese Feldstörung. Du bist die Beste. Lass es los!“
Dieser Aufprall, der Duft, Adelines Vertrauen. Er brach den Bann. Die Angst wich einem kalten Adrenalinstoß. Adeline vertraute ihr in einem Moment, in dem das Leben von Aminahs Zahlen abhing.
Aminah schloss die Augen für eine Zehntelsekunde. Das Stöhnen der Trägheitsdämpfer, die die Kursabweichung verzweifelt zu korrigieren versuchten, drang an ihr Bewusstsein. Ein Muster. Ein Schwingungsmuster, das nicht zu den verzerrten Daten passte. Das rohe Geräusch der Schiffsphysik. Eine Vektoränderung von nur 0,001 Grad würde die kritische Zone verlassen.
Ihre Finger flogen über die manuelle Steuereingabe. Sie gab eine Sequenz ein, die sie in diesem Chaos nur fühlen konnte. Eine reine, geometrische Korrektur, ohne die übliche Absicherung.
Die Nova-3 ruckelte einmal scharf. Ein Knistern durchzog das Cockpit. Dann. Stille.
Der Asteroid rauschte an ihnen vorbei. Ein Schatten, der die Kabine füllte, verschwand. Das Navigationsdisplay flimmerte kurz und kehrte zur Klarheit zurück. Grün.
„Kurs korrigiert. 0,001 Grad Vektoränderung. Ich habe die Systeme wieder stabilisiert.“ Aminah atmete aus, die Luft brannte in der Lunge.
Adeline fixierte die Anzeigen. Ihre Augen blitzten mit Anerkennung. „Du hast das Schiff gefühlt, Navi-Königin. Das war kein Zahlenwerk. Das war Kunst.“
Aminah wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Das T-Shirt klebte am Rücken. „Nennen wir es eine intuitive Korrelation basierend auf subvisuellen Datenmustern.“ Sie benutzte den Fachjargon, um die Stärke der Empfindung zu verbergen. Sie hatte nicht nur navigiert; sie hatte dem Dunkel getrotzt.
Die unmittelbare Gefahr wich, doch der Fokus blieb. Aminah hatte ihre Angst überwunden, und die Nova-3 hielt ihren Kurs. Die Magnetfeldschwankung zog sich zurück. Der Kernfusionsofen hatte die Abschaltung um zwei Sekunden verfehlt.
„Wir haben es geschafft, aber die Sensoren im Sektor Gamma zeigen eine beispiellose Dichte an organischen Polymeren,“ sagte Aminah. Ihre Stimme trug wieder die ruhige Präzision, die sie auszeichnete. „Die massive Feldstörung hat Mikroorganismen freigesetzt, die tief im Gestein eingeschlossen waren. Ohne diesen Schock wäre uns das entgangen.“
Adeline, die das Steuer nun mit der Sicherheit der Königin des Steuerrads hielt, nickte. „Manchmal muss man die Regeln brechen, um die Daten zu kriegen.“ Sie sah Aminah an, ein leichtes Grinsen umspielte ihre Lippen. „Ich bin froh, dass du dich für die Kunst entschieden hast, statt für die Abschaltung.“
Der Rest der Mission verlief im Schatten des Überlebens. Die geologischen Geräte lieferten nun Daten, die jede Erwartung übertrafen. Aminah und Adeline arbeiteten stundenlang, koordinierten die Analyseflächen und bereiteten die Ergebnisse auf.
In der Mittagspause stand Aminah an der kleinen Mini-Küche. Sie bereitete eine Spezialität ihrer Kolonie zu: eine gefüllte Brotschnecke mit exotischen Gewürzen und dem gewissen Pep des Marsbodens. Die Gerüche von Zimt, Piment und einer leichten Mineralnote füllten die enge Kabine.
Adeline schnupperte überrascht. „Wenn ich morgen sterbe, dann will ich zumindest mit deinen Kreationen in Erinnerung bleiben.“
Die zwei lachten, ein kleiner Tabubruch gegen den ewigen Ernst der Station. Menschliche Verletzlichkeit, verpackt in Gewürzen, blieb der beste Kontrast zum Chaos des Alls.
Am nächsten Tag stand die Präsentation vor der Führung der Mutterflotte und der Mars-Akademie an. Aminah hielt die endgültigen Daten in Händen und sprach mit fester Stimme über Gravitationseffekte, Magnetfelder und natürlichen Ressourcen. Adelines Unterstützung war verlässlich an der Steuerung der Hologramme.
„Die kritische Magnetfeldschwankung ermöglichte eine einmalige Probenentnahme,“ sagte Aminah am Ende. „Wir haben hier nicht nur Minerale gefunden, sondern auch potenzielle Hinweise auf Mikroorganismen, die in der harschen Umgebung überleben. Das eröffnet praktische Anwendungen für die Terraforming-Projekte auf dem Mars.“
Die Offiziere und Wissenschaftler klatschten. Der Erfolg glänzte hell, weil er dem Risiko abgetrotzt wurde. Aminahs Beitrag fand Anerkennung.
Als der Tag sich dem Ende neigte, saß Aminah auf der schmalen Sitzbank in ihrem Quartier. Sie nahm die Alraune aus ihrer Halterung und hielt sie sanft. Die kleinen grünen Blätter wirkten beruhigend. Die Pflanze, so klein und unbedeutend, hatte ihren Duft in den Moment der Panik gesandt.
Sie flüsterte ihr leise zu: „Danke, dass du mich beschützt hast.“
Sie blickte auf das kleine Fenster, durch das das ferne, funkelnde Sternenmeer schimmerte. Die Unendlichkeit blieb voll von Möglichkeiten.
Ihr Traum, als beste Navigatorin der Flotte neue Welten zu entdecken und Spuren zu hinterlassen, nahm Fahrt auf. Sie hatte das Labyrinth nicht nur umgangen; sie hatte den Weg in seiner größten Dunkelheit gefunden.
Der Advent blieb anders als zu Hause auf dem Mars. Er blieb voller leiser Wunder und unerschütterlicher Hoffnung – so wie Aminah selbst.
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