Mittwoch, 17. Dezember 2025

17. Dezember 3528: Der Stern von Tharsis

 Das Gewicht der Tiefe (Eine Woche vor Weihnachten)


Die schwere Verbundtür zum Sitzungssaal glitt geräuschlos ins Schloss. Ein kurzes Zischen der pneumatischen Dichtungen versiegelte die Welt draußen und ließ den Luftdruck in Tatjanas Ohren kurz knacken. Über ihr lastete der kühle, unnachgiebige Druck der Tiefe, als läge das gesamte Massiv der Tharsis-Ebene wie ein bleierner Deckel auf ihrem Bewusstsein. Drei Ebenen unter dem wirbelnden Marsstaub schnitten gleißende Lichtkanten durch die künstlichen Schatten des Raumes. Hinter den Panzerglaswänden rollten hochauflösende Live-Aufnahmen der unendlichen, rostfarbenen Dünen vorbei, während über dem zentralen Tisch ein Hologramm flimmerte. Blaue Flottenpunkte glitten dort in starren, bedrohlichen Formationen wie künstliche Lichterketten durch das digitale Nichts.

Tatjana trat an das Podium und umschloss mit ihren Fingern das kleine silberne Glöckchen. Das kühle Metall kreiste kurz in ihrer Handfläche. Sie genoss das vertraute Gewicht, das ihre Finger erdete. Mit einem festen Griff zum Hinterkopf glättete sie das seidene Tuch in ihrem Haar. Das Azurblau des Stoffes leuchtete im fahlen Licht der Monitore wie ein Signalfeuer zwischen den grauen Uniformen der Offiziere. Sie legte die Hand flach auf die Tischoberfläche. Das kühle Holz leitete die Vibrationen der Gespräche direkt in ihre Haut weiter. Tatjana schloss für einen Herzschlag die Augen. Sie zählte das abgehackte Keuchen von Admiral Peters und das nervöse Trommeln von Marcus Sterns Fingern auf dem Tischrand.

Ein leichter Schlag mit dem silbernen Klöppel durchschnitt das Stimmengewirr. Sofort erloschen die Mikrofone an den Sprechstellen. Die roten Kontrolllichter am Pult dunkelten ab. Admiral Peters straffte seine Schultern und trat so nah an das Hologramm, dass sein Gesicht blau schimmerte. Er knallte einen Stapel digitaler Aktenordner auf die Glasplatte. »Präventivmaßnahmen. Raschheit. Abschreckung«, stieß er hervor, wobei sein Atem kleine Nebelwolken auf das Display zauberte. Tatjana fixierte die Schweißperlen auf seiner Oberlippe. Peters rieb seine feuchten Handflächen an der Galauniform. Sein Blick zuckte immer wieder zum Rand seines Tablets, wo die Kursverläufe seiner Rüstungsaktien in einem tiefen, blutigen Rot nach unten wegbrachen.

»Admiral, rücken Sie ein Stück zur Seite«, sagte Tatjana und wischte über ihr eigenes Terminal. »Wir schauen uns jetzt das Video-Log vom Saturn-Sektor 4 an. Ungefiltert.«

Das Bild flackerte auf. Trümmer eines Forschungslabors wirbelten durch die Schwerelosigkeit eines eingestürzten Tunnels. Dann schoben sich schemenhafte Gestalten ins Bild. Lange, glühende Gliedmaßen, die eher an erstarrtes Magma als an Metall erinnerten, griffen behutsam in den Schutt. Ein mechanisches Kreischen ertönte, als ein massiver Stahlträger wie eine Aluminiumdose verbogen wurde. Eines der Wesen hob eine bewusstlose Forscherin aus dem Staub. Es hielt sie so vorsichtig wie ein rohes Ei und drückte ihr mit einem präzisen Griff eine Notfall-Sauerstoffmaske auf das Gesicht.

»Sie dringen in unsere Souveränität ein!«, brüllte Peters. Er hämmerte die Faust auf den Tisch, dass die Wassergläser tanzten. »Diese Dinger operieren in unseren Minen. Wer garantiert uns, dass sie dort keine Sprengköpfe platzieren, während sie für die Kamera Retter spielen?«

Tatjana betrachtete das Zittern in seinem ausgestreckten Zeigefinger. »Der Paragraph 12 der Erstkontakt-Richtlinie sieht eine vierzehntägige Beobachtungsphase vor«, erwiderte sie. Ihre Stimme blieb so ruhig, dass Peters das Atmen vergaß. Sie tippte auf ihr Display und zog einen digitalen Zeitbalken mit dem Finger ganz nach links auf Null. »Ich aktiviere hiermit die Sperre für alle Offensiv-Vektoren. Marcus, verriegeln Sie die Zugriffscodes für die Langstreckenraketen.«

Peters riss den Kopf hoch. »Das ist Hochverrat am Mars!«

»Das ist ein gültiges Protokoll«, entgegnete Tatjana. Sie hob das silberne Glöckchen und ließ den Klöppel sanft gegen den Rand schwingen. Das helle Pling beendete seinen Einwand, bevor er den nächsten Satz formen konnte. »Admiral, setzen Sie sich. Wir definieren jetzt die Prüfstände für die Kommunikationseinheiten.«

Sie schob mit dem Zeigefinger virtuelle Fenster über den großen Schirm. »Hier, die Frequenzanalyse. Sandra, Sie übernehmen die biologische Korrelation. Guo Han, Sie validieren die mathematischen Muster. Wir treffen uns hier in genau achtundvierzig Stunden zur ersten Auswertung. Bis dahin bleibt die Flotte auf Parkposition. Keine Triebwerkszündung, keine Zielerfassung.«


Die Zuspitzung (Drei Tage vor Weihnachten)


Der Marsstein schien die Kälte der kommenden Tage tiefer in die Gänge zu atmen. Tatjana rieb sich die Oberarme, während sie Guo Han über die Schulter sah. Er brütete über einer schmalen Box, aus der bunte Kabel wie die Eingeweide eines mechanischen Tieres hingen. Seine Finger zitterten, während er zwei winzige Kupferdrähte in eine Schnittstelle zwängte. Er wippte ununterbrochen auf seinen Fußballen.

»Es ist ein Rhythmus, Tatjana«, flüsterte er, ohne den Blick vom Mikroskop zu nehmen. Er drückte eine Taste. Ein tiefer, vibrierender Ton erfüllte den Raum. Er klang wie das ferne Schlagen einer Glocke tief unter der Meeresoberfläche. Tatjana trat einen Schritt vor. Die Schwingung wanderte durch ihre Sohlen bis in ihre Waden.

»Sie kommunizieren durch Frequenzen, die unsere Sensoren bisher als Hintergrundrauschen des Planeten abgetan haben«, erklärte Sandra Kramer. Sie trat aus dem Schatten der Hydroponik-Tanks und hielt eine Holo-Aufnahme hoch. Darauf waren Pflanzen zu sehen, deren Blätter im exakten Takt des Saturn-Signals zuckten. »Sie reden nicht. Sie schwingen. Wenn Peters jetzt eine Atombombe zündet, ist das für diese Wesen so, als würde man einem schlafenden Kind eine Sirene direkt ins Ohr halten.«

Ein schrilles Warnsignal riss Tatjana aus der Betrachtung. Das Terminal an der Nordwand leuchtete in einem giftigen Gelb auf. »Eingriff in Sektor 7«, meldete die Computerstimme mit ihrer emotionslosen Präzision.

Tatjana sah auf dem Monitor, wie die Klappen einer Grenzfregatte aufglitten. Die Torpedo-Schächte starrten wie schwarze Augen in das All. Peters stand am anderen Ende des Raumes, den Kommunikator so fest umschlossen, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er hatte den Override-Code gesendet.

Tatjana rannte nicht. Sie zwang ihre Schritte zu einem langsamen, fast provozierend ruhigen Takt. »Marcus, der Code aus der Notiz«, rief sie über die Schulter. Sie griff in ihre Tasche und holte das zerknitterte Papier hervor, das sie Marcus vor zwei Tagen aus dem Terminal gezogen hatte. Sie tippte die achtstellige Zahlenfolge in das Hauptterminal.

»Zugriff verweigert«, plärrte das System. Peters lächelte dünn. Er hatte den Sicherheitsalgorithmus bereits geändert.

Tatjana drückte die Zunge gegen ihren Gaumen. Sie löschte die Eingabe und griff nach ihrem silbernen Glöckchen. Sie drückte den Korpus der Glocke direkt auf den akustischen Sensor des Terminals, dort, wo das System auf Stimmen und Schwingungen prüfte. Sie schlug mit dem Klöppel dreimal hart gegen das Silber. Die scharfe Frequenz des Metalls überlagerte das Sicherheitsprotokoll der Software für einen Bruchteil einer Sekunde. In diese Lücke schob sie den analogen Sperrriegel am Gehäuse des Rechners nach unten.

Ein mechanisches Klacken ertönte. Die gelbe Warnleuchte erlosch. Auf dem Schirm schlossen sich die Torpedo-Schächte mit einem dumpfen Grollen, das man bis in die Bodenplatten spürte. Peters ließ den Kommunikator sinken. Er starrte Tatjana an, als hätte sie ihm eigenhändig das Schwert zerbrochen.

»Regeln, Admiral«, sagte Tatjana und strich sich eine lose Haarsträhne unter das Tuch. »Sie schützen uns vor unseren eigenen Impulsen.«

Nachdem die Militärs schimpfend den Raum verlassen hatten, reichte eine Assistentin Tatjana eine Tasse Gewürztee. Tatjana umschloss das Porzellan mit beiden Händen. Die Hitze des Tees injizierte Wärme in ihre klammen Finger. Sie legte den Daumen fest an das Material und konzentrierte sich auf den Schmerz der Hitze, um die Kälte der eben getroffenen Entscheidung aus ihren Gedanken zu vertreiben.


Das Leuchten der Ordnung (Heiligabend und Neujahr)


Heiligabend im Mars-Bunker roch heute nach Zimt, Nelken und der feuchten Erde der Gewächshäuser. Marcus Stern hatte einen Tisch mit einem weißen Laken gedeckt, das an den Ecken noch Falten von der Lagerung im Depot aufwies. Ein kleiner Zweig aus den hydroponischen Gärten steckte in einer Vase aus recyceltem Glas. Tatjana stellte ihr silbernes Glöckchen mitten auf den Tisch. Sie legte einen kleinen, duftenden Tannenzweig um das kühle Metall.

»Wer hätte gedacht, dass wir den Admiral dazu bringen, Zimtsterne zu essen?«, murmelte Guo Han und schob einen Teller mit Gebäck in die Mitte.

Sandra Kramer lachte und griff nach einem der Plätzchen. »Er kaut darauf herum, als wäre es eine feindliche Patrone.«

Tatjana betrachtete Peters, der tatsächlich am Ende der Tafel saß. Er hielt eine Tasse Zimtmilch, als wollte er sie als Beweisstück sicherstellen. Er mied Tatjanas Blick, aber er war gekommen. Das war der Sieg der Form über den Zorn.

»Wir haben die Gleichung vor einer Stunde validiert«, sagte Guo Han und reichte Tatjana einen Keks. »Die Frequenz der Saturnianer korreliert mit dem Wachstum von Quarzkristallen. Sie reden über Zeiträume von tausend Jahren, Tatjana. Unsere ganze Flottenbewegung ist für sie wahrscheinlich nur ein kurzes Flackern eines nervösen Insekts.«

»Ein nervöses Insekt mit Atomwaffen«, ergänzte Marcus und hob seine Tasse. »Danke, dass du den Insektenspray-Aktivator gesperrt hast, Tatjana.«

Tatjana trank einen Schluck der warmen Milch. Die Süße vertrieb den metallischen Nachgeschmack der letzten Tage. Sie beobachtete, wie Sandra und Marcus über eine Peinlichkeit lachten, die im Labor passiert war – Guo Han hatte wohl versucht, das Saturn-Signal mit seinem elektrischen Rasierer zu synchronisieren.

Bevor die kleine Feier endete, löste Tatjana das Tuch aus ihrem Haar. Der Stoff glitt weich durch ihre Finger. Sie faltete es ordentlich und legte es auf das leere Podium neben das Glöckchen. Ein junger Kadett, der den ganzen Abend an der Tür Wache gestanden hatte, trat leise an sie heran. Er hielt einen kleinen Pappstern in der Hand. Die Ränder waren krumm, man sah noch die Bleistiftlinien der Schere. »Für die Ordnung, Ma‹am«, sagte er und reichte ihr das Papier.

Tatjana strich mit dem Daumen über die raue Oberfläche des Sterns. »Danke, Kadett. Er wird einen Platz finden.«

Sie steckte den Stern in ihre Jackentasche, direkt neben die Notiz mit dem Override-Code. Der Kontrast zwischen dem harten Papier und dem zerknitterten Geheimcode fühlte sich unter ihren Fingern richtig an.

Der Aufzug brachte sie zur Oberfläche. Die Zahlen auf dem Display sprangen im Takt ihres Herzschlags nach oben. Als die Tür aufglitt, schlug ihr eisiger Wind entgegen. Der feine Marsstaub knirschte unter ihren Sohlen wie frisch gefallener Schnee auf der Erde. Tatjana trat hinaus auf den roten Sand. Die Sonne war nur noch ein winziger, blasser Punkt am Horizont. Sie atmete tief ein, bis die Kälte in ihren Lungen brannte.

Am ersten Januar saßen sie erneut zusammen. Keine Krisensitzung, sondern eine Arbeitsgruppe. Die ersten Übersetzungsversuche der Saturnianer flimmerten über die Schirme. Die Musterfolgen der Wesen passten perfekt zu den Wachstumszyklen der Mars-Ernte. Tatjana rührte in ihrer Zimtmilch. Die Würze stieg ihr in die Nase.

Ihre Hand ruhte locker auf dem nun schweigenden Glöckchen. Eine kleine Karte lag daneben, auf der jemand mit Bleistift notiert hatte: »Respekt als Strategie.« Tatjana schob die Karte in ihren Ärmel. Die Ordnung hatte den Raum geschaffen, in dem diese neue Welt atmen konnte. Sie ging langsam den Gang hinunter zu ihrem Quartier. Das Gewicht der Verantwortung drückte sie nicht mehr in den Boden; es fühlte sich jetzt wie ein festes Fundament an, auf dem man stehen konnte. Das Glöckchen auf dem Podium blieb zurück, ein silberner Wächter in der Stille, die Tatjana mit ihren Regeln erkämpft hatte.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen