Donnerstag, 18. Dezember 2025

18. Dezember 3528: Der Algorithmus der Gier

 Interplanetare Parlament auf dem Mars


General Iljuschin presste seine schweren Stiefelsohlen auf die vibrierende programmierbare Materie des Bodens. Ein kaum wahrnehmbares Schwingen der Platten begleitete jeden seiner Schritte, während er die Nanostrukturen der Wände mit seiner Präsenz zur Seite drängte. Die Sehnen in seinem Nacken spannten sich unter dem steifen Kragen der Uniform schmerzhaft an. Iljuschin suchte mit seinem Blick die Umgebung nach Schwachstellen in der Symmetrie ab. Absolute Ordnung definierte für ihn diesen Raum.

Holografische Fenster spannten ein Panorama des Sonnensystems über das Deck. Helle Punkte und dünne Bahnen zogen wie Glieder einer endlosen Kette an Iljuschin vorbei. Sein Fokus blieb am Merkur hängen, diesem kleinen, glühenden Punkt im strategischen Netz. Im Inneren seines Brustkorbs zog sich alles zusammen. Dieser Erstkontakt schlug eine Bresche in die Mauer der jahrelangen Verteidigung.

„Wissenschaft“, grollte Iljuschin. Das Wort hinterließ einen Geschmack von weichem Eisen auf seiner Zunge. Er betrachtete die Forscher als Kinder, die mit Streichhölzern in einem Munitionsdepot spielten. Maschinen hingegen lieferten ihm klare, unbestechliche Linien auf seinen Monitoren.

Iljuschin aktivierte die glatte Oberfläche des Schreibtisches mit seiner biometrischen Signatur. Blaue Lichter an den Neuralinterfaces blinkten und warteten auf die Übersetzung seiner Impulse in operative Knoten. Er strich mit seinen Fingerspitzen über die kühle Kante des Tisches. Der Widerstand des harten Materials bot ihm Halt.

Auf dem Display prangte der Name „Akademie“ in fetten Lettern. Die Meldung über die zivile Federführung beim Erstkontakt erzeugte ein scharfes Knacken in Iljuschins Gelenken. Politik verdrängte die Macht. Experten ersetzten die Durchsetzung. Er verglich diesen Vorgang mit dem Raub eines Skalpells während einer laufenden Operation.

Iljuschin schob die neuralen Anschlüsse in die Fassung am Hinterkopf, bis ein mechanisches Klicken den Kontakt bestätigte. Ein silberner Schimmer legte sich über sein Sichtfeld. Das Interfacebild von Admiral Hawthorne erschien direkt vor seinem inneren Auge. Ihre Augen spiegelten die Kälte von flüssigem Stickstoff wider. Ihre Stimme drang ohne Umweg über die Ohren in sein Bewusstsein.

„General. Die Flotte wartet auf einen Vektor.“

„Präventivmaßnahmen prüfen, Admiral.“ Iljuschin stieß die Worte ohne jede Höflichkeit hervor. „Die Positionen halten. Sobald die Diplomaten versagen, brennt das Feuer bereits.“

Die binäre Bestätigung in der Leitung gab ihm die nötige Stabilität zurück. Handlung stellte für ihn die einzige Antwort auf Ungewissheit dar.

Ein Meer aus Stimmen erfüllte den Sitzungssaal des Verteidigungsausschusses. Iljuschin empfand den Platz neben Marcus Stern als juckenden Ausschlag. Stern betrachtete Wissenschaftsorganisation als Naturgesetz, was das Blut in Iljuschins Schläfen pochen ließ.

Am Kopfende des Tisches besetzte Tatjana Sokolowa ihren Stuhl. Ein azurblaues Tuch umschloss ihr Haar und glänzte im künstlichen Licht metallisch. Ihre Haltung wirkte unnachgiebig und scharf. Vor ihr stand ein kleines, silbernes Glöckchen. Das kühle Metall reflektierte die Deckenbeleuchtung. Dieses einfache Werkzeug flößte Iljuschin mehr Respekt ein als eine schwere Railgun.

Die holografische Projektion schob orbitale Pfade in den Raum. Zahlen schichteten sich übereinander. Guo Han erhob sich und sprach mit zitternder Begeisterung von Übersetzungsboxen und Frequenzmustern. Er forderte Kommunikation. Iljuschins Kiefermuskeln härteten aus. Kommunikation stellte das Nebelwerk der Schwachen dar. Vorsicht kündigte die Niederlage an.

Iljuschin umschloss mit seinen Fingern das kühle Wasserglas. Kälte biss in seine Haut. Er benetzte mit der Zunge den Rand des Glases und verbarg so das unkontrollierte Zucken seines Mundwinkels. Jede sichtbare Emotion vor diesen Zivilisten bedeutete eine Blamage.

Er schob seinen Körper nach oben. Das Amt verlangte nach dieser physischen Präsenz. Er breitete seine Arme am Rednerpult weit aus. Sein Gewicht ruhte auf den flachen Handflächen.

„Wer die Sicherheit ausbremst, gefährdet weit mehr als nur die wissenschaftliche Neugier.“ Seine Stimme rollte wie schwerer Donner durch den Saal. „Das Sonnensystem verlangt Entschiedenheit. Zögern führt ins Verderben.“

Er zeichnete mit seinen Händen Bilder in das Hologramm: Kraftfelder, Abschreckungsradien, Ordnung. Einzelne Offiziere nickten zustimmend. Das Gold auf ihren Schultern blitzte im Rhythmus ihrer Bewegungen. Der Aufwind trug seine Argumente.

„Ich fordere eine unmittelbare, präventive Sicherung des Sektors.“

Tatjanas Hand bewegte sich. Ein heller Ton durchschnitt die Luft. Das Metall schlug einmal an und trennte Iljuschins Redefluss wie eine Klinge ab.

Augenblicklich erloschen die Mikrofone an den Sprechstellen. Ein digitales Visier schloss sich vor Iljuschins Gesicht. Die Ohnmacht versteinerte seine Pose. Er hielt seinen Mund halb offen. Tatjana schaltete seine Präsenz schlichtweg stumm.

Iljuschin stieß kurze, abgehackte Brocken ohne elektronische Verstärkung in den Raum. „Die Hierarchie verlangt Reaktion! Taten statt Worte sichern das Überleben!“

Ein Vibrieren pulsierte in Iljuschins neuralem Interface. Eine private Leitung zu Hawthorne öffnete sich in seinem Hinterkopf. Die Admiralin signalisierte Bereitschaft. Er raste mit einem mentalen Impuls zurück, getragen von seinem Zorn über die Zensur: „Bereit. Befehl ausführen. Ende der Diskussion.“

Die Nachricht verschwand scheinbar in den Tiefen des verschlüsselten Militärnetzes. Die programmierbare Materie des Gebäudes reagierte jedoch auf einen völlig anderen Befehl. Ein junger Technikoffizier aktivierte am Nachmittag den „Festtagsmodus“, um Adventsstimmung zu verbreiten.

Die Umgebung transformierte sich schlagartig. Holografische Fenster zeigten nun kitschige Tannenzweige zwischen den taktischen Karten. Die Fassade des Gebäudes pulsierte in einem weichen, feierlichen Gold. Durch diesen banalen Fehler leitete das System Iljuschins private Nachricht direkt auf den öffentlichen Kanal um.

Ein gelber Balken schoss über die zentrale Projektionsfläche. Iljuschins Augen fixierten den Datenprompt. Die Dekodierung erfolgte gnadenlos vor den Augen des gesamten Ausschusses.

„Ankauf: Rüstungspaket, Q-Industries. Gekaufte Aktien. Persönliche Position gesichert.“

Vollkommene Stille füllte den Saal. Das Schweigen fühlte sich wie eine öffentliche Exekution an. Hitze schoss in Iljuschins Wangen und brannte unter seiner Uniform. Der Atem stockte in seiner Kehle. Die Worte in seinem Mund vertrockneten zu Staub. Die Politiker starrten mit offenem Mund auf die Beweise. Ein junger Offizier in der dritten Reihe unterdrückte ein Kichern.

„Das stellt einen technischen Fehler dar!“ Seine Stimme klang nun wie das Quietschen einer verrosteten Tür.

Tatjana Sokolowa hob erneut das Glöckchen. Der Ton bohrte sich in die peinliche Stille. Ihre Augen suchten jede Lüge direkt in den Falten seiner Uniform. Iljuschin klammerte sich am Pult fest, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Er mahlte mit seinen Zähnen aufeinander. Der Wunsch, die Kameras auszuschalten, verpuffte wirkungslos gegen die Protokolle.

Die Technik blieb vollkommen neutral. Der Festtagsmodus spielte eine sanfte Weihnachtsmelodie ab, während die Korruptionsdaten blinkten. Das Lachen brach wie eine Lawine los. Der Hohn zertrümmerte Iljuschins Stolz. Die Fakten lagen offen: Aktiennachweis, interner Kauf, Interessenkollision. Er benötigte den Krieg für seine private Bilanz.

Tatjana leitete die Untersuchung mit chirurgischer Präzision ein. „General, ich ordne eine sofortige Ethikprüfung an.“ Ihre Stimme blieb das einzige Geräusch im Raum. „Sie treten von allen operativen Funktionen zurück.“

Iljuschins Lippen formten hohle Erklärungen über private Altersvorsorge und Unachtsamkeit. Seine Worte verloren sich in der Weite des Raumes. Ein sachlicher Beamter legte Handelsbelege und Zeitstempel auf das Hologramm. Die Papierspuren dokumentierten die Käufe exakt vor den Forderungen nach militärischer Eskalation.

Im Interface flackerte eine Nachricht von Hawthorne auf: „Klären. Disziplin prüfen.“ Die Admiralin stieß ihn ab, um die eigene Karriere zu retten. Das Gift der Beschämung füllte jeden seiner Atemzüge. Verbündete flohen beim ersten Anzeichen eines Risikos.

Wochen vergingen in einem quälenden Schwebezustand. Seine Anteile wechselten schließlich den Besitzer mit massivem Verlust aufgrund der fallenden Kurse. Scham begleitete jeden seiner Schritte durch die künstlich beleuchteten Gänge.

An Heiligabend bot die Aussichtsplattform einen Blick auf die Marsoberfläche. Die Lichter der Kolonien wirkten wie verstreute Sterne im Staub. Iljuschin senkte seine Schultern. Das Gewicht der verlorenen Ehre drückte schwerer als der Marsstein über dem Bunker. Früher veränderte ein einziger Befehl die gesamte Welt. Jetzt existierte nur noch eine Akte in einem Verfahren.

Iljuschin griff in seine Tasche und holte ein Taschentuch hervor. Er faltete den Stoff mit mechanischer Präzision. Er presste Stoffrand auf Stoffrand. Er glättete die Textur mit seinem Daumen. Diese neue Regel ersetzte den gewohnten Triumph. Die Rehabilitation erforderte kleine Schritte innerhalb des Systems. Die Regeln stellten nun die einzige Macht dar, die überhaupt noch Bestand hatte.

Am ersten Januar öffnete sich die Tür zum Sitzungssaal erneut. Die bloße Teilnahme an einer untergeordneten Arbeitsgruppe ersetzte sein gewohntes Kommando. Er klemmte ein Bündel einfacher Papiere fest unter seinen Arm. Das Ziel bestand nun in der Erfüllung der Aufgaben statt in der Gier nach persönlichen Vergünstigungen. Er fungierte nun als einfacher Bürger. Diese Notwendigkeit glich einer Reparatur an einer beschädigten Maschine.

Holografische Fenster warfen letzte Reste von Weihnachtslichtern in den Korridor. Die Wissenschaftler jubelten am anderen Ende des Raumes über die neuen Korrelationen der Merkur-Signale. Iljuschins Platz blieb am äußersten Rand. Er behielt mit seinem Schritt den militärischen Takt bei und fügte sich in ein ziviles Raster ein.

Die Jacke saß fest an seinem Körper. Er tastete nach dem gefalteten Taschentuch in seiner Tasche und fand dort Struktur. Die Macht änderte lediglich ihre Form. Die kühle Luft des Bunkers füllte seine Lungen mit einer neuen Art von Nüchternheit. Er trat direkt in den Kreis der anderen Teilnehmer. Die Rolle als Teil der Ordnung ersetzte seinen Status als Herr der Sterne.

Guo Han hantierte mit zittrigen Fingern an einer neuen Schnittstelle. Er nahm Iljuschins Anwesenheit wahr. Sein Blick verharrte auf den flimmernden Kurven der Übersetzung. „Sehen Sie sich das an“, murmelte er.

Die Projektion zeigte keine militärischen Formationen mehr. Stattdessen pulsierten organische Wellenformen über den Schirm. Die Datenströme der Merkurianer bildeten ein dichtes Geflecht aus Lichtwurzeln. Iljuschin trat einen Schritt näher. Er suchte nach dem gewohnten Muster von Angriffsvektoren. Er fand jedoch nur eine mathematische Eleganz. Diese neue Logik forderte sein Verständnis von Strategie heraus.

„Es handelt sich um ein Angebot“, sagte Sandra Kramer. Sie stand neben einem Hydroponik-Tank. Das Wasser gluckerte leise. Sie hielt ein Datenpad, auf dem biologische Marker grün leuchteten. „Ihnen fehlt das Interesse an Raum. Sie fordern Zeit. Ihre Signale korrelieren mit den Wachstumszyklen unserer Ernten hier auf dem Mars.“

Iljuschin spürte ein Ziehen in der Magengegend. Die Gier nach dem Rüstungsgeschäft machte ihn blind für diese Symmetrie. Er betrachtete seine Hände. Sie wirkten in diesem Moment fremd. Er besaß Griffe für Waffen und Kontrollpulte, aber ihm fehlte das Verständnis für einen planetaren Austausch.

Marcus Stern trat an das Terminal. Er schob seine Brille auf der Nase nach oben und tippte eine Sequenz ein. Dieser Befehl löschte die militärischen Sperren endgültig. „Wir senken die Schilde auf das Minimum“, erklärte er. „Tatjana unterschrieb die Freigabe.“

Ein leises Summen erfüllte den Saal. Der Ton unterschied sich von einem Warnsignal und ähnelte dem fernen Echo eines Windspiels. Die programmierbare Materie der Wände schien sich zu entspannen. Die harten Kanten der Architektur wurden weicher. Die Beleuchtung dimmte sich auf ein warmes Bernstein ab.

Iljuschin beobachtete Tatjana Sokolowa. Sie stand am Fenster und sah hinaus in die Nacht. Sie legte ihr azurblaues Tuch auf den Tisch. Ihr Haar fiel locker über ihre Schultern. Sie legte die Rolle der unerbittlichen Richterin ab und wirkte wie eine Frau, die eine schwere Last abstellte.

„General.“ Sie hielt ihm den Rücken zugewandt. „Helfen Sie uns bei der Logistik? Wir koordinieren die Verteilung der neuen Saatgut-Daten. Diese Aufgabe verlangt jemanden mit Sinn für Strukturen.“

Iljuschin zögerte. Die Worte „Saatgut-Daten“ klingen in seinem Kopf nach einem Abstieg. Er betrachtete den Pappstern, den ein Kadett am Vortag an die Wand geheftet hatte. Das Papier besaß unsaubere Kanten. Dieses Zeichen von Menschlichkeit durchbrach die sterile Welt.

Er trat zum Tisch. Er legte seine Papiere geordnet ab. „Ich übernehme die Transportkorridore.“ Seine Stimme klang fest. „Wir stellen sicher, dass die Datenpakete die äußeren Kolonien ohne Verzerrung erreichen.“

Sandra Kramer lächelte ihm zu. Diese Geste enthielt keinen Spott. Sie erkannte einen Kollegen an, der seine Arbeit verrichtete.

Die Stunden verstrichen mit der Arbeit an Vektoren ohne Zerstörungsziel. Iljuschin korrigierte Bandbreiten und optimierte Satellitenbahnen. Er lockerte die Anspannung in seinem Nacken. Die Präzision seiner Arbeit diente nun einem Zweck jenseits seines Kontostands.

Gegen Mitternacht reichte ihm Guo Han eine Tasse heißen Tee. Der Dampf stieg in feinen Kringeln nach oben. „Gute Arbeit, Iljuschin“, sagte Han.

Iljuschin umschloss die warme Tasse mit seinen Händen. Er spürte die Hitze des Tees an seinen Handflächen. Er blickte auf das silberne Glöckchen auf dem Podium. Das Metall verharrte reglos. In dieser Stille fand er eine gemeinsame Richtung.

Er atmete tief ein. Die Luft schmeckte klar. Er half nun beim Aufbau der Ordnung einer neuen Welt. Dieser Umstand genügte ihm vollkommen.

Er griff in seine Tasche und berührte das gefaltete Taschentuch. Er hielt an der Ordnung fest, aber er widmete sie jetzt dem Leben. Er setzte sich wieder an das Terminal und begann mit der Vorbereitung der nächsten Datenwelle für die Ernte-Systeme auf Europa. Das Jahr begann mit einer klaren Linie. Diese Linie führte nach vorn.


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