Sonntag, 7. Dezember 2025

7. Dezember 3528: 34 zu 28: Die Kosmische Abstimmung

 Mars: Parlamentsgebäude der interplanetaren Föderation


Senator Claus Friedman ruhte seine Hände auf dem polierten Obsidian des Konferenztisches. Er befand sich im Verfassungssaal des Marsparlaments, drei Ebenen tief im Regolith, verborgen unter dem roten Staub, der draußen in ständigen Stürmen über die Oberfläche kroch. Dieser Ort, dieses Monument der Vorsicht, atmete filtriertes Ozon und kaltes Metall. Die flimmernden Wände präsentierten statische Bilder der Marskuppeln und der roten Hochebene, ein stilles Ödland. Doch vor ihm schwebten bunte, dynamische Hologramme der interstellaren Flotte, funkelnde Sterne, die seine weit gesteckten Visionen widerspiegelten. Hier im Inneren entstand die Zukunft.


Als Vorsitzender des Senatsausschusses für interstellare Beziehungen schlug Claus die Brücke. Seine Aufgabe: Visionen verkaufen.


„Meine Damen und Herren,“ begann er. Seine Stimme war kein dröhnendes Organ, sondern sanft, wie ein geschliffenes Argument, das Widerstände nicht brach, sondern umfloss. „Wir stehen am Anfang eines neuen Zeitalters. Die Expansion in den Orion-Arm verspricht nicht nur Technologietransfer, sondern eine Diversifizierung unserer Wirtschaft, die Milliarden von Arbeitsplätzen schafft.“


Die Köpfe begannen, zustimmend zu nicken. Gesichter wurden aufmerksam, sobald das Wort Milliarden ihren Weg fand.


Claus nahm einen Schluck des filtrierten Wassers. Die Zunge erinnerte sich an die letzten zehn Jahre. Ein junger Xenobiologe hatte einst die größten wissenschaftlichen Sprünge nur in der reinen Forschung, in der Dekodierung winziger biochemischer Signaturen des Lebens verortet. Der jetzige Claus wusste, dass die Entschlüsselung eines interstellaren Signals ein Jahrzehnt dauern konnte, wenn man es mit reiner Neugierde betrieb.


Er dachte an die Algorithmen für den neuen FTL-Antrieb, die unvollendet auf seinem privaten Server lagen. Diese Technologie würde interstellare Reisen um ein Vielfaches sicherer machen, aber sie verlangte nach gewaltigen privaten Geldern – Geldern, die nur flossen, wenn die Investoren Profite aus den Sternen erwarteten. Claus schob die Erinnerung an die feinen Strukturen der theoretischen Physik beiseite. Er brauchte diese Senatoren, er brauchte ihren Goldmantel, um seine idealistischen Träume zu vergolden. Er musste den politischen Kompromiss annehmen, die interstellare Neugierde als Wirtschaftsboom zu verkaufen. Nur so würde der Weg zur Präsidentschaft frei, nur so würde der Titel als „Vater des interstellaren Zeitalters“ ihm die Macht verschaffen, das zu bauen, was wirklich zählte: sein Forschungsinstitut und seine Flotte.


Seine Argumente entfalteten die erhoffte Wirkung, doch in der Mitte des Tisches faltete General Nikolai Iljuschin, der Kommandant des militärischen Raumkommandos, seine bulligen Hände und nickte langsam. Ein Anzeichen von Misstrauen, das Claus am Rand seines Blickfeldes registrierte. Iljuschin, sein direkter, benannter Gegenüber, war die Verkörperung von Angst und Isolation in dieser Debatte.


Plötzlich blitzte ein neues Hologramm auf der Anzeigetafel auf, überlagerte die strategischen Sternenkarten. Eine Sonde, die am Rand des Wolf-1061-Systems kreiste, pumpte eine Flut von Daten in den Saal. Eine hochkomplexe, rhythmische Pulsation, die alle bekannten astrophysikalischen Muster sprengte. Keine natürliche Quelle.


Die entspannte Atmosphäre im Saal zerbrach. Das Summen der Lüftung trat plötzlich so hervor, als stände es direkt neben ihm.


„Dies könnte eine Gelegenheit sein, die interstellare Kommunikation zum ersten Mal auf ein neues Level zu heben“, unterbrach Claus die Stille. Seine Stimme behielt die ruhige, kontrollierte Tonlage bei, die er in angespannten Momenten immer aufrechterhielt. Er wusste: Nur durch Ruhe würde er die Kontrolle über die Richtung der Debatte bewahren. „Wir müssen vorsichtig handeln, aber ebenso mutig sein. Der erste Schritt ist ein offener Dialog.“


General Iljuschin hob eine Hand. „Senator Friedman, mit Verlaub. Ein offener Dialog mit einer unbekannten Macht? Das sind keine wirtschaftlichen Partner, die anklopfen. Das ist ein potenzielles Militärrisiko. Die erste Direktive des Kommandos fordert sofortige, umfassende Abschirmung. Wir müssen unsere Terraforming-Anlagen, unsere kritische Infrastruktur sichern, bevor wir auch nur ein Wort der Neugierde senden.“ Seine Stimme klang hart, mit dem metallischen Unterton von Befehlsgewalt.


Abschirmung bedeutete Stillstand, bedeutete die Vernichtung seiner Pläne, die Welt in seine Richtung zu lenken.


„General,“ Claus lehnte sich zurück, die Geste bewies überlegene Gelassenheit. „Die größten Fortschritte der Menschheit entstanden aus Neugierde und Kooperation, nicht aus Isolation und Misstrauen. Wir dürfen nicht in Angst erstarren, weil etwas neu ist. Das wäre ein Verrat am Pioniergeist, der uns alle hierher auf den Mars gebracht hat.“


Dr. Kira Volkov, die junge Abgeordnete für Kultur und Kommunikation, neigte sich zu ihrem Sitznachbarn, der Abgeordneten Naledi. Claus konzentrierte sich. Er brauchte diese informelle Unterstützung, um die Hardliner in Schach zu halten. Er sah, wie Kira das Holo-Signal anstarrte und dann flüsterte sie zu Naledi, laut genug, dass Claus es im Halten der Luft im Saal wie eine Welle wahrnahm: „Es ist nicht nur Wissenschaft, Naledi. Es ist unsere Chance, als Kultur zu definieren, wer wir sind: offen, nicht aggressiv. Iljuschin will uns zu Höhlenmenschen machen.“ Dieses Urteil, laut, klar und politisch scharf, war ihm Gold wert. Claus quittierte es mit einem knappen, charmanten Nicken, das Kira ein leichtes, strategisches Lächeln entlockte. Sie spielte ihm den Ball zu.


Die Debatte entwickelte sich zu einer hitzigen Konfrontation. Iljuschin präsentierte Daten über potenzielle Waffensysteme und betonte die Lektionen der Erdgeschichte: Der Stärkere gewinnt. Er forderte die sofortige Anwendung des „Protokoll Sigma“ – einen planetaren EMP-Schild, der jegliche Kommunikation nach außen kappte, bis die Natur des Signals eindeutig geklärt war. Claus nahm die wachsende Angst in den Gesichtern einiger Senatoren wahr, ihre Hände strichen nervös über die glatten Oberflächen der Tischplatten.


Claus wusste, er musste handeln. Er stand auf, seine Haltung straff, aber nicht aggressiv.


„Meine Freunde.“ Seine Stimme füllte den Raum, ohne zu schreien. „Wir müssen uns fragen, was wir sind. Sind wir die Nachkommen von Spezies, die aus Angst ihre Türen verschlossen und am Ende im Dunkeln verschwanden? Oder sind wir die Architekten einer galaktischen Zivilisation?“


Er ging zum Fenster, das den Blick auf das tote Rot draußen freigab, das nur durch eine meterdicke Transparenzscheibe von ihnen getrennt war. Der Kontrast überwältigte ihn. Die endlose Wüste. Ein Ort ohne spontanes Leben.


„Dort draußen,“ Claus deutete auf die leblosen Hänge des Olympus Mons, „liegt die Erde, die wir zurückgelassen haben. Eine Welt, die sich selbst beinahe erstickt hat. Wir kamen hierher, um eine neue Art des Daseins zu schaffen. Eine, die auf Expansion, Offenheit und dem Mut zur ersten Frage basiert.“


Er kehrte zum Tisch zurück und blickte direkt in Iljuschins starres Gesicht. „Protokoll Sigma ist Isolation. Isolation ist das Gegenteil von Fortschritt. Ich schlage vor, wir setzen auf unsere Stärke, die in der wissenschaftlichen Neugierde liegt.“


Er tippte auf sein eigenes Display. „Ich fordere eine Sofortabstimmung. Nicht über Protokoll Sigma, sondern über Protokoll Prometheus: Wir senden eine einfache, unverschlüsselte mathematische Sequenz zurück. Eine Primzahlfolge. Sie demonstriert Intelligenz ohne Bedrohung. Wir zeigen, wer wir sind: neugierige Wissenschaftler, keine verängstigten Soldaten. Dies ist meine Exekutivanweisung als Ausschussvorsitzender, und ich brauche die Bestätigung des Senats jetzt.“


Die Luft vibrierte. Iljuschin starrte ihn an, die Augen zu Schlitzen verengt.


„Das ist ein riskantes Glücksspiel, Claus!“ Iljuschin stieß die Worte hervor.


„Das nenne ich Führung, General. Und Sie wissen, dass mein Institut für Xenobiologie die besten Algorithmen für die Dechiffrierung entwickelt hat. Wir haben die größte Expertise, das Signal zu verstehen, nicht es zu fürchten.“ Claus ließ den wissenschaftlichen Trumpf fallen.


Der Senatsvorsitzende, ein alter Mann, der Claus’ politischen Ehrgeiz zutiefst verstand, nickte kurz. „Wir stimmen ab. Sofort.“


Claus spürte das kalte Adrenalin, das durch seine Adern schoss. Es war ein Wagnis. Die gesamte Zukunft seiner Karriere hing von diesem einen Moment ab.


Da, mitten in der Abstimmung, explodierte die holografische Projektion der Sonde. Nicht mit einem Warnsignal, sondern mit einer zweiten, neuen Datenserie. Die Primzahlsequenz war nicht nur erkannt worden, sie wurde sofort gespiegelt und fortgesetzt. Das Wesen da draußen antwortete in der Sprache der Mathematik, schneller, als jedes bekannte menschliche System hätte reagieren können. Es war keine feindselige Geste, es war eine Einladung.


Ein kollektives Ausatmen im Saal. Die Senatoren erstarrten, die Displays mit den Abstimmungszahlen schienen einzufrieren.


Claus lächelte, ein echtes, ungeschminktes Lächeln. Der Xenobiologe hatte den Politiker überflügelt.


„Meine Damen und Herren,“ sagte er, leise triumphierend, „ich glaube, unsere Antwort ist bereits gesendet worden. Und die Aliens... sie haben Kuchen mitgebracht.“


Die Abstimmung wurde abgeschlossen. Mit einer überwältigenden Mehrheit von 87% bestätigte der Senat Protokoll Prometheus. General Iljuschin stieß einen leisen Fluch aus, doch sein Blick enthielt eine zögerliche Anerkennung. Das zweite Signal, die sofortige, kooperative Antwort, hatte die Angst der Hardliner zerschlagen.


Claus verließ den Konferenzsaal. Die kalte, sterilisierte Stille der Korridore nahm ihn auf. Er dachte nicht mehr an politische Manöver. Seine Gedanken kreisten um die mathematische Fortsetzung der Sequenz. Sie war wunderschön. Sie war elegant. Es war Leben.


Er erreichte sein privates Büro, ein kleiner Raum, der nur die notwendigsten Projektoren und eine einzelne, bequeme Liege enthielt. Auf dem Holotisch vor ihm flimmerte noch das Abstimmungsergebnis. Dieses Ergebnis sicherte nicht nur die interstellare Kommunikation, es sicherte auch die sofortige, volle Finanzierung für sein neues Forschungsinstitut. Der Grundstein für die „Galaktische Allianz“ war gelegt. Der Aufstieg zur Präsidentschaft war jetzt nur noch eine Frage des Timings.


Claus deaktivierte alle Anzeigen. Die Raumbeleuchtung wurde gedimmt. Das kalte Neonlicht des Mars wich der Dunkelheit. Er setzte sich und holte einen kleinen, antiken Glaswürfel aus einer Schublade – kein Hightech, sondern ein Relikt. Er aktivierte die Applikation: Die Projektion einer Kerze flackerte in der Mitte des Würfels, ein warmes, digitales Gelb. Die einzige Quelle von Wärme in diesem tiefen, kalten Bunker.


Die Adventszeit war angebrochen. Ein Moment der menschlichen Reflexion in der Tiefe des Weltraums. Er schickte eine kurze Gedankenübertragung an seinen Assistenten.


„Sende die Protokolle zur Dekodierung der zweiten Sequenz an mein Xenobiologie-Team. Und füge einen Zusatz bei: Wir brauchen jetzt keinen Kuchen mehr. Sagen Sie General Iljuschin, dass ich ihm nächste Woche den besten Bordeaux vom Terroir des Valles Marineris schicke. Er soll ihn trinken, während wir den ersten echten Dialog beginnen.“


Claus lehnte sich zurück, das warme Licht der digitalen Kerze spiegelte sich in seinen Augen. Der rote Staub des Mars da draußen wartete. Aber der Himmel darüber war jetzt offen. Er war der Vater des interstellaren Zeitalters, ein Idealist mit einem Plan, der wusste, dass das größte Geschenk in der Finsternis die unerschütterliche Hoffnung war, die er gerade in die Sterne gesandt hatte.

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