Merkur Orbitalstation
Adeline zog den Reißverschluss ihres Cadet-Jumpsuits bis zum Hals. Die metallene Kälte des Zippers war ein Gefühl, das sie kannte. Ihre Finger glitten über das Emblem der Mars-Raumfahrtakademie und aus reiner Gewohnheit begann ihr Daumen, gegen den Oberschenkel zu trommeln. Takt, Takt, Takt. Die Routine, das war es, was sie hier oben festhielt, ein Schutzschild in der Orbiting Cold, dem metallischen Weiß und Grau der Forschungsstation Tsiolkovsky.
Die Bordlichter warfen schmale Streifen auf die Metallwand, die sich auf dem Boden zu einer Gasse formten, die zur Aussichtskuppel führte. Dort leuchteten kleine, programmierbare Sterne, exakt auf die Reihenfolge eingestellt, die Adeline in der Theorie selbst entworfen hatte — eine winzige, rebellische Weihnachtsgalaxie, geboren aus überschüssiger Rechenzeit und zwei Nächten ohne Schlaf. Es war ihr kleiner Beitrag, eine stille Feier in einem Raum, der nur für Funktionalität gebaut war.
Ihre Eltern, Adela und Adolf, sprachen nie von Festlichkeiten. Ihre Labore waren stille Kathedralen der Wissenschaft. In ihren Unterlagen fand Adeline Diagramme, Formeln und Notizen zum Sensorarray des litauischen Außenmoduls. Trotz der flackernden Plasmafackeln, die wie geplatzte Sterne leuchteten, sah Adeline Adelas Handschrift, die manchen Anmerkungen einen kleinen Stern am Rand hinzufügte. Eine sanfte Aufforderung, sich an Gepflogenheiten zu erinnern. Adolf notierte Temperaturen mit einer Akribie, die jedes Geschenk wie einen Messwert erscheinen ließ. Diese künstliche Adventstradition entstand zwischen Proben und Kalibrierungen — ihre Heimat, warm durch geteilte Arbeit, in orbitierender Kälte.
Heute hatte Kommandantin Novak, die stille Herrscherin des Protokolls, eine offizielle Auflage durchgesetzt: Sicherheitsinspektion, während die Wissenschaftler letzte, kritische Tests für eine Messkampagne am Sonnenrand vorbereiteten. Novak zeigte nie Gefühle; ihr Kiefer war immer fest, ihre Bewegungen präzise. Dennoch klemmte ein schiefes, handgestricktes Mützchen in schrillem Rot hinter der Kommandobrücke. Adeline wusste, dass es der Versuch der Crew war, die Kommandantin zum Mitmachen zu bewegen. Novak hatte die Mütze nicht entfernt. Das galt als stilles Einverständnis.
Adeline bog um eine Ecke, und ihr Blick fiel auf ein versiegeltes Panel. Darauf ein altes Etikett, das sie kannte: Adelas Handschrift. "Kalibration — Prio A" stand da, und daneben, der kleine, gezeichnete Stern. Er war ein Zeugnis von Monaten, die in skelettierten Nächten verbracht wurden. Das Instrument, das dort geschützt lag, war nicht nur Code, es war ein Teil der Familiengeschichte. Der Gedanke an den drohenden Verlust traf sie nicht technisch, sondern emotional, direkt mit dem kleinen Stern auf dem Etikett verknüpft.
Der Alarm schrillte. Die Frequenzschwingung fuhr durch Metall und ihre Ribben, schärfer als jedes Kommando. Die Bordlichter sprangen von Routine-Weiß in nervöses Gelb und dann in pulsierendes Rot. Die Station, die gewöhnlich summte wie ein Organismus, der heilte, schien plötzlich in Atemnot zu sein.
Auf dem Monitor schrabbte ein winziger Punkt eine neue, schräge Bahn — ein kleines Fragment, kaum größer als ihre Faust, mit einem Kurs, der den äußeren Sensorring schräg streifte.
Der zentrale Rechner gab die nüchterne Einschätzung: Kollisionswahrscheinlichkeit zehn Prozent, Cluster zwei und vier betroffen.
Zehn Prozent. Die Zahl war winzig, aber Adeline sah die Konsequenz: das mögliche Zerschmettern des Instruments. Es war das Ergebnis von Monaten, wenn nicht Jahren gemeinsamer, stiller Arbeit ihrer Eltern. Es war ihr Einsatz, die Essenz ihrer stillen, funktionalen Liebe. Sie musste handeln.
Ihre Hände flogen über den Bordrechner, Befehle fielen aus ihr heraus wie Gewichte, die sie ablegte, um Geschwindigkeit zu gewinnen. Sie umging die meisten Sicherheitsprotokolle, die die Zustimmung Novaks verlangten. Die Kommandantin stand am Kopf eines Haufens von Laserprotokollen und rang mit einer Anzeige; sie schnellte hoch. Adeline sah, wie Novaks Hand zum Nacken fuhr, dort, wo die rote Mütze klemmte, als würde sie einen Anker suchen.
Novaks Stimme drang in die Kabine, knapp, aber ohne Panik. „EVA-Team A, Stellungnahme.“
Adeline trat vor, hob das Kinn. Ihr Daumen begann, gegen den Oberschenkel zu pochen. Es war kein Takt, Takt, Takt mehr, sondern ein schnelles, unruhiges Pochen, Pochen, Pochen. Nervosität mochte da sein, aber die Entscheidung strömte klar durch ihre Adern.
„Ich übernehme die Außenreparatur“, sagte sie. Es war keine Bitte, keine Frage, sondern eine Feststellung. Aminah, die neben ihr stand, nickte, die Augen so weit geöffnet, dass sich ihre Augenwinkel in kleine, begeisterte Rillen zogen.
Novak schluckte. Adeline sah, wie die Kommandantin die Schultern minimal verlegte — eine Geste der Zustimmung, klarer als jede Lobeshymne. „Autorisierung erteilt. Zwei Minuten für Anzug und Freigabe.“ Novak grub eine Blechdose aus einer Schublade und reichte einen trostlosen Zimtstern, ohne Worte. Der Zimtstern landete in Adelines Handfläche, und Adeline spürte: Er war warm durch menschliche Hände.
Dieser sensorische Kontrast – die Hektik, das kalte Rotlicht und die unverhoffte, warme Geste – löste etwas in ihrer Brust. Sie presste den Keks fest und schob ihn in eine Utility-Tasche. Ein kurzer, versöhnlicher Akt, ehe Metall und Vakuum sie verschluckten.
Die Luft trat gegen Adelines Hals, kühl und knapp bemessen. Der EVA-Anzug schloss sich mit einem Sog, der ihr Ohr füllte; das Geräusch kappte die letzte Verbindung zur Stationsakustik. Die Außenluft ventilierte in präziser Abfolge; die Anzeigen begannen ihr eigenes Balladenspiel der Druckwerte.
Adeline fokussierte auf die mathematischen Knoten, die eine Bahnveränderung erforderten: kleine Schubimpulse, zeitlich perfekt gesetzt, um den Fragmentpfad minimal zu ändern und das Sensorarray zu retten. Die Theorie war elegant und logisch. Die Ausführung verlangte Stetigkeit und Intuition, die über den Code hinausging.
Draußen blitzte die Sonne. Kein warmes Wesen, sondern ein schleifendes Messer, das die Tsiolkovsky und ihren Anzug in metallisches Weiß tauchte. Die Merkurseite präsentierte thermische Gradientenzonen wie unsichtbare Klippen. Das Fragment, nickig und zickig, driftete wie ein ungezogenes Kind, ein Chaos im geordneten Tanz der Himmelskörper.
Auf ihrem Helmet-Display flackerte die Kurszahl, verlangte ständige Anpassungen. Adeline ließ die kleinen Manöverarme tasten, dirigierte den Miniaturtrieb; ihre Finger bewegten sich schneller, als ihr Bewusstsein lenken konnte. Der Trommelschlag im Oberschenkel war längst verstummt. Ihre Konzentration war jetzt rein, fokussiert auf Joysticks, auf Zahlen, die ihre Intuition begleitete.
Gerade als sie den ersten kritischen Schubimpuls setzen wollte, blinkte eine visuelle Ablenkung auf. Ein kleiner Roboter, K-5, näherte sich dem Array auf eigenen Sensoren. Er trug an seinem Schnabel eine rot-grüne Girlande, ein Überbleibsel des vorweihnachtlichen Festes, und blinkte im Takt, als würde er Weihnachtslieder summen. Die Programmierung schnürte ihm die Aufgabe zu: Dekoration installieren.
Die Schwerelosigkeit ließ K-5 in eleganter Unbeholfenheit taumeln; die Girlande verhedderte sich unglücklich in einem Modulventil.
Adeline musste lachen. Es war ein leiser, unvermuteter Hauch im geschlossenen Anzug — ein Aufblitzen von Heiterkeit über die Absurdität: ein tollpatschiger Roboternarr, der in der Sekunde der größten Gefahr die Prioritäten des Lebens und des Todes mit einer billigen Lichterkette verwechselte. Der Moment brach die Spannung in ihrer Brust.
Die Aufgabe verlangte nun ultimative Präzision und Improvisation. Die Fragmente näherten sich; Temperatursensoren funkelten Warnungen. Adeline richtete die Schubdüsen so, dass ein minimaler Delta-v ausreichte, um die Bahn des Fragments zu streifen und zu lenken, nicht zu zerstören. Zerstörung brachte Trümmer, Trümmer brachte Kettenreaktionen. Impuls gezielt setzen, Reaktionsmomentum berücksichtigen, Kontakt vermeiden. Adeline berechnete, korrigierte.
In diesem kritischen Augenblick, kurz vor dem Manöver, huschte ein Zweifel durch ihren Verstand. Was, wenn die Schätzung falsch ist? Was, wenn ich das Instrument meiner Eltern zerstöre? Die Unsicherheit warf einen Schatten, drohte, die Muskeln zu lähmen, doch Adeline presste die Lippen aufeinander und ließ den Finger auf den Auslöser fallen.
Ein Ruck setzte ein, ein kurzes, scharfes Ziehen an ihrem Handschuh, das sie fast aus der Verankerung riss. Gleichzeitig löste sich der K-5 von der Girlande; die Lichterkette zog am Ventil, und ein kleiner Kunststoffclip flog davon. Metall funkelte in der Sonne; ein Funkenregen, kurz wie ein Herzschlag.
Das Fragment teilte seine Bahn. Zwei Bruchstücke trennten sich: Ein kleineres streifte das weniger kritische Panel und hinterließ einen harmlosen Kratzer. Das größere, gefährlichere Stück, das sie gezielt aus dem Weg gelenkt hatte, roch nur noch nach Gefahr. Die Bahn auf ihrem Display änderte Farbe: von kritisch-rot zu kontrollierbar-blau.
Adeline spürte nicht so viel, wie sie wusste; ihr Körper hatte die Arbeit erledigt. Auf dem Display flackerte ein kleines Symbol — Alarmstufe abfallend. Ein Geräusch, das sich wie eine Erleichterung anfühlte, blieb kurz im Helmag hängen. Aminah flüsterte über Funk, keine Worte, nur Luftzüge, die reine, freudige Erleichterung andeuteten. Novak funkelte im Hintergrund; die Kommandobrücke atmete als Einheit.
Das Signal aus Adelas Telefon — ein privater Kanal, fast privat in dieser kritischen Stunde — begann zu singen. Adelas Stimme, schlanker Humor tragend, meldete, dass die Laboreintretung des Sensors stabil blieb. Ein Aufshorn in der Stimme, das Stolz verkleidete. Adelines Schulterbereich entfaltete eine Lockerheit, als wäre ein jahrelang getragener Panzer abgefallen. Sie wendete K-5 mit einem geschickten Schub, löste die Girlande. Das künstliche Wellenband landete wie eine kleine Flagge an der Außenhülle und flackerte im Sonnenwind.
Zurück an der Lukentür schnappte die Luft des Stationsinneren wie ein vertrauter Atemzug. Kommandantin Novak empfing sie nicht mit militärischem Frost, sondern mit einem trockenen Kommentar. „Wenn der Weihnachtsmann jemals onboard kommt, nimm ihn ins Engineering. Er scheint Handwerk zu verstehen.“
Novak reichte keine Belohnung, aber sie legte eine Liste ab, die Adeline als zukünftige Einsatzoption führte, ein nonverbales Versprechen. Adeline sah das feine Funkeln in den Augen der Kommandantin, ein Funkeln, mit dem man Bärte schnitzen könnte. Novak führte ihre Hand zur roten Mütze, und ließ sie, das Funkeln haltend, tatsächlich auf dem Kopf.
Adeline fand ihre Eltern im Sensorraum, zwischen Kabelbündeln und kleinen, akkurat beschrifteten Metallkästen. Adela hielt eine Kaffeetasse, deren Oberfläche mit winzigen, getrockneten Sternfetzen besetzt blieb. Adolf hob den Kopf, das Gesicht von langen Nächten gezeichnet, aber die Augen quickten wie Lampen. Kein großes Wort, kein dramatisches Umarmen; stattdessen eine Berührung an der Hand, kurz, fest. Der Zimtstern, den Novak ihr zuvor gereicht hatte, lag neben den Monitoren wie ein Friedensangebot der Routine. Die Familie blinzelte einander zu, sprach mit stiller Effizienz über Datenverifizierung. Adeline hörte die Stimmen nicht als Musik, sondern als vertraute Frequenzen, die das Gerüst ihres Lebens bildeten.
Das typische Weihnachtsgeschenk blieb nicht aus. Adela zog ein kleines Päckchen aus einer Schublade, verpackt in die alte Landkartenhülle, die Adeline aus Kindheitstagen kannte. Die Mappe zeigte Trockental auf Merkur, Risse wie Flüsse; die Verpackung duftete nicht nach Tanne, sondern nach Öl und Reinigungslösung. Adeline öffnete das Päckchen mit der gleichen Hand, mit der sie Schubdüsen bediente.
Ein kleiner, geschliffener Stein ruhte darin, schwarz-braun mit einer Glasader, die Licht so hielt, als weigere sie sich, zu gehen. Adolfs Augen sagten, dass dieser Stein vor Jahren vom Merkurboden stammte, gesammelt an einem Tag, als Adeline dreizehn geworden war. Damals hatte sie einen komplexen, aber kindlichen Plan verloren, der später die Rettungsmissionen ihrer jetzigen Arbeit fütterte. Der Stein, das Symbol des Verlusts, wurde nun zum Symbol der gewonnenen Fähigkeit.
„Zum Fest“, sagte Adela, ohne Verklärung und doch voll Wärme. Adeline steckte den Stein in ihre Jackentasche; das Gewicht beruhigte.
Das Fest knüpfte langsam an. Crewmitglieder verteilten kleine Geschenke und lachten über die Absurdität. Novak trug ihre Mütze, stellte sich in die Mitte und nahm einen Bissen von einem weiteren Zimtstern. Der K-5 rollte zwischen den Füßen, sein LED-Lächeln blinkte im Takt.
Adeline beobachtete und verspürte ein warmes Aufblitzen, nicht Feier, nicht Stolz, sondern die Art von Besitz, die aus Entscheidungen rührt: Hier habe ich geholfen. Hier gibt es Menschen, für die ein Risiko tragbar geworden ist.
Die Stunden flossen wie Sirup durch die Systeme. Adeline hörte nicht bewusst Glocken; ein leises Piepen erinnerte vielmehr an die regelmäßigen Checks, die Sicherheit garantierten. Jeder Check bestärkte, dass das System intakt blieb. Die Station fühlte sich nicht wie ein Schiff, das kurz vor einem Aufruhr stand; sie fühlte sich wie ein Raum, in dem Menschen zusammenklebten wie Metall bei Hitze.
Gegen Abend, als die Sonne ihren schärfsten Winkel zog und die Schatten spitz wie Stacheln wurden, trat Adeline an die Kuppel. Die Sterne, künstlich und doch beruhigend, blinkten in der Reihenfolge ihres Codes. Die künstliche Ordnung ihrer Galaxie bildete nun einen ruhigen Anker gegenüber dem chaotischen Driften, das sie eben gebändigt hatte.
In der Tasche wärmte der Merkurbrocken; ihre Finger drum herum zögerten, das Trommeln setzte aus. Das Pochen war zu einem ruhigen Ticken geworden, zu einem inneren Kompass. Aminah kam leise heran, legte eine Hand auf Adelines Schulter, nicht beherrschend, sondern wie eine Entsprechung von Vertrauen. Kein Wort, nur Wärme.
Novak tauchte hinter ihnen auf, die Mütze leicht schief. Die Kommandantin streckte die Hand nach oben, Finger wie ein Flugzeug. "Wir fliegen noch", schien die Haltung zu sagen. Adeline erwiderte die Geste.
Adela reichte Adeline einen weiteren Zimtstern. Die Berührung der Finger wirkte wie ein letzter Befehl: Bleib bei uns.
Adeline biss in den Keks. Der Geschmack war keine große Ode an Gewürze, aber die Sinne formten Erinnerungen. Sie betrachtete den Merkurbrocken, die kleine Narbe entlang seiner Kante. Heute zeigte die Narbe eine glatte Linie; das Ergebnis einer Entscheidung, die handfest, manchmal impulsiv, aber zugleich durchdacht ausfiel.
Das Trommeln ihrer Finger setzte aus. Kein lauter Triumph, nur ein ruhiges Versprechen, das sich wie ein neuer Stern in ihrem Blickbild formte: Diese Crew, diese Familie, diese kleine, wobbelnde Station — Beschützen, immer wieder.
Draußen kratzte das Fragment über die Umlaufbahn, jetzt harmlos. Die Station blieb intakt. Adeline steckte den Merkurbrocken tiefer in die Tasche, spürte das beruhigende Gewicht. Im Inneren der Station blieb das Fest lebendig, nicht als Zeremonie, sondern als Alltag, der sich wechselseitig beschützte. Advent im Orbit: nicht himmlisch, sondern menschlich.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen