Samstag, 20. Dezember 2025

20. Dezember 3528: Das Tharsis-Protokoll

 Das interplanetarisches Parlament auf dem Mars

Juro Tanaka rückte seinen Stuhl zurecht, bis das harte Polymer der Lehne fest gegen seine Wirbelsäule drückte. Die Sitzmulde passte sich nur zögerlich seiner Position an. Er legte sein Datenpad auf die schwere Platte aus dunklem Eichenimitat, die den runden Tisch des Sicherheitsausschusses bildete. Kühle Luft strömte aus den Lüftungsschlitzen im Boden und wirbelte den Geruch von Ozon und Reinigungsmitteln auf. Drei Ebenen aus massivem Basaltgestein trennten diesen Raum von der Marsoberfläche. Über seinem Kopf wölbte sich eine dicke Panzerglasdecke, durch die der rötliche Staub der Tharsis-Ebene im fahlen Licht der fernen Sonne tanzte. Juro schob seine Brille mit dem Mittelfinger fest auf die Nasenwurzel zurück. Seine Handflächen hinterließen feuchte Abdrücke auf der glatten Oberfläche des Tischs.

Dieses Gebäude bildete das logistische und politische Zentrum des Galaktischen Parlaments. Juro bekleidete hier das Amt des Chef-Syndikus, verantwortlich für die rechtliche Integrität der Sitzungsprotokolle. In der Mitte des Raumes rotierte das gewaltige Hologramm des inneren Sonnensystems. Blaue Lichtpunkte markierten die Positionen der interplanetaren Flotte, während ein pulsierendes violettes Signal im Orbit des Merkur verharrte. Juro fixierte diese Anomalie. Die Tagesordnung auf seinem Display zeigte nur einen Punkt: „Dringlichkeitssitzung zur Bewertung der Merkur-Signale gemäß Artikel 14 der Verfassung“. Juro spürte ein Ziehen in seinem Nacken. Dieser Artikel regelte die parlamentarische Oberhoheit über militärische Erstschläge.

Tatjana Sokolowa saß direkt gegenüber von Juro am erhöhten Segment des Tisches. Sie ordnete einen Stapel physischer Papierdokumente vor sich, obwohl alle Daten digital vorlagen. Das azurblaue Tuch auf ihrem Kopf bildete einen scharfen Kontrast zur grauen Wand hinter ihr. Neben ihr nahm Marcus Stern Platz. Der Direktor der Mars-Akademie stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und beobachtete die Anzeigen mit einer Miene tiefer Skepsis. Er rieb sich die Schläfen, während er die Frequenzmuster der Merkur-Signale auf seinem privaten Schirm analysierte.

Am Rand des Saales stapelten sich geöffnete Technikkisten. Kabelstränge hingen lose aus einer Wandverkleidung, da Techniker am Morgen zusätzliche Sensorphalanxen für die Merkur-Daten installiert hatten. Werkzeuge lagen auf dem Boden verstreut. Die Eile der Installation zeugte von der Nervosität der Verwaltung.

Tatjana griff nach dem silbernen Glöckchen, das vor ihrem Platz stand. Der helle Ton durchschnitt das Gemisch aus Atmen und dem Summen der Projektoren. Stille erfüllte den Saal. Tatjana blickte in die Runde und fixierte jedes der Ausschussmitglieder für einen Moment.

„Ich eröffne die Sitzung des Sicherheitsausschusses“, sagte Tatjana. Ihre Stimme klang fest und kontrolliert. „Wir beraten heute über die Anwendung von Artikel 14. Die militärische Führung fordert die Freigabe von Offensivmitteln gegen die unbekannte Quelle im Merkur-Sektor.“

Juro beobachtete General Iljuschin, der zwei Plätze weiter rechts saß. Die massiven Schultern des Generals spannten den Stoff seiner dunkelgrauen Uniformjacke. Iljuschin starrte auf das Hologramm, ohne die Augen zu bewegen. Seine Kiefermuskeln arbeiteten rhythmisch unter der Haut. Er wirkte wie eine gespannte Feder. Juro lockerte den obersten Knopf seines Hemdes, da der Stoff plötzlich gegen seinen Kehlkopf drückte. Die Anwesenheit des Generals erinnerte Juro an die Dringlichkeit seines Vorhabens. Er musste die Kontrolle des Parlaments wahren.

Iljuschin erhob sich langsam. Das Leder seines Gürtels knarrte bei jeder Bewegung. Er deutete auf die violette Anomalie im Orbit des Merkur. „Diese Frequenzen stören unsere gesamte Kommunikation im inneren Gürtel“, erklärte der General. Seine Stimme klang rau und fordernd. „Jede Sekunde des Zögerns gefährdet die Sicherheit des gesamten galaktischen Verbundes. Wir benötigen die sofortige Autorisierung für einen Präventivschlag. Die Flotte wartet auf meine Befehle.“

Juro schüttelte den Kopf. Er aktivierte ein Dokument auf seinem Pad. „Artikel 14 verlangt eine eindeutige Identifizierung der Bedrohung, General.“ Er hielt die Stimme fest. „Bisher existieren lediglich unbestätigte Signalmuster. Ein militärischer Angriff ohne wissenschaftliche Grundlage verletzt unsere Verfassung. Wir wahren die demokratische Kontrolle, auch unter Zeitdruck.“

In diesem Moment öffnete sich die schwere Verschlussblende der Tür. Vanessa Desantis betrat den Raum und schob einen silbernen Servierwagen vor sich her. Ein Aroma von frischem Mohn, warmem Hefeteig und einer Spur Zimt überlagerte den beißenden Geruch von Ozon. Vanessa bewegte sich mit einer Selbstverständlichkeit durch den Raum, die Juro jedes Mal bewunderte. Sie war die Verwalterin der Akademie-Logistik und versorgte sowohl die Gelehrten als auch die Parlamentarier mit dem Nötigsten.

Vanessa steuerte den Wagen an den Gerätekisten in der Ecke vorbei, um den Tisch von der Seite der Vorsitzenden zu erreichen. Beim Vorbeifahren verfing sich der Saum ihrer Schürze an einer scharfen Metallecke einer der Technikkisten. Sie bückte sich, um den Stoff zu lösen. Dabei strich ihre Hand über ein Frachtlabel, das halb abgerissen an der Seite klebte. Juro sah, wie sie kurz stutzte. Sie riss das Etikett mit einer ruckartigen Bewegung ab und betrachtete es im Licht ihres Wagens.

„Diese Techniker lassen auch überall ihren Müll kleben“, sagte Vanessa laut in die angespannte Stille hinein. Ihre Stimme füllte den hohen Raum und ignorierte die protokollarische Strenge. Sie trat an den Tisch und stellte eine Tasse Tee vor den General. „Überall klebt dieses Q-Logo drauf, sogar auf den neuen Sensoren da hinten. Marcus, hast du das gesehen? Q-Industries liefert jetzt wohl auch schon die Hardware für den Sitzungssaal, direkt aus derselben Charge wie die Railgun-Module für die Flotte. Ich habe die Kisten erst heute Morgen im Frachtzentrum gesehen, als ich den Mohn für den Strudel abgeholt habe.“

Sie reichte Marcus Stern ein Stück Mohnstrudel und legte das zerknitterte Frachtlabel einfach oben auf seine Akten. „Und draußen am Pylon Drei blockieren sie mit ihrem Riesenfrachter wieder alles. Die kommen mit dem Ausladen der Munition gar nicht hinterher, so eilig haben sie es heute. Alles voll mit Q-Containern.“

Juro erstarrte. Die Worte Vanessas fügten sich wie Zahnräder in seinem Kopf zusammen. Er blickte auf das Label auf Marcus’ Tisch. Das Logo von Q-Industries prangte in fettem Schwarz auf dem Papier. Ein dumpfes, rhythmisches Beben drückte in diesem Moment gegen Juros Fußsohlen. Die Vibration wanderte die Beine hinauf und versetzte das Wasser in den Gläsern auf dem Tisch in konzentrische Ringe. Juro senkte den Blick auf sein Datenpad. Die Zeitanzeige sprang auf exakt 14:00 Uhr galaktische Standardzeit. Dieser Takt entsprach den massiven Hydraulikpressen des oberen Andockpylons.

General Iljuschin ruckte mit dem Oberkörper nach vorn und krallte die Finger in die Tischkante. Er starrte zur Panzerglasdecke hinauf. „Hören Sie das?“, rief der General. Er deutete mit einer fahrigen Geste auf das violette Flimmern im Hologramm. „Die Anomalie erreicht uns physisch. Das Fundament unserer Macht wankt unter dem Druck dieser Signale.“

Juro aktivierte nun die Andockliste des Pylons Drei auf seinem Schirm. Der Name des Schiffes erschien in weißer Schrift: Q-Express 704. Er schob die Information per Wischbewegung in das zentrale Hologramm, direkt neben die violette Anomalie.

„Das Fundament wankt aufgrund von Profitinteressen, General“, sagte Juro. Seine Stimme klang nun scharf wie ein Skalpell. Er deutete auf das Label und die Schiffskennung. „Die neue Sensorik in diesem Raum stammt von Q-Industries. Und deren Munitionstransporter dockt exakt in der Sekunde an, in der Sie uns zur Abstimmung über einen Erstschlag drängen. Erklären Sie uns diesen Zusammenhang. Warum korrelieren Ihre Angriffsziele exakt mit den Lagerstätten jener Firma, die Ihre Wahlkampfgelder bereitstellt? Sie haben die Munition bestellt, bevor wir das Recht dazu erteilt haben.“

Dunkles Rot färbte Iljuschins Gesicht. Er presste die Kiefer zusammen. Die Admiräle am Tisch ließen ihre Blicke zwischen dem General und der Andockbestätigung wandern. Iljuschin öffnete den Mund zur Antwort, doch Vanessa hielt ihm bereits einen Teller mit Erdbeerkuchen hin. „Essen Sie erst mal was, General. Mit leerem Magen schimpft es sich so schlecht über die Logistik.“

In diesem Moment flackerte die Taktikkarte erneut auf. Ein technischer Fehler im Hauptserver, provoziert durch die Überlastung der neuen, überhastet installierten Hardware von Q-Industries, löste einen alten Programmiercode aus. Das kriegerische Hologramm der Flotte zerfiel in zahllose Pixel. An seine Stelle trat ein vergessener Algorithmus der Akademie-Software aus der Zeit der Gründung. Ein digitaler Weihnachtsbaum erschien in der Mitte des Saales. Er besaß flimmernde Lichter und kleine, pixelige Geschenke. Das Konstrukt rotierte langsam um die eigene Achse. Ein elektronisches Glöckchen ertönte aus den versteckten Lautsprechern.

Ein kurzes, unterdrücktes Lachen entwich Tatjana Sokolowa. Es wirkte ansteckend. Selbst die Admiräle am Tisch ließen die Schultern sinken. Die bedrohliche Atmosphäre verpuffte augenblicklich. Die Machtprojektion des Generals scheiterte an einem weihnachtlichen Programmierfehler und der bodenständigen Direktheit Vanessas.

„Wir stimmen nun über Artikel 14 ab“, sagte Juro. Er spürte die Erleichterung in seiner Brust. „Transparenz über die Taktik. Vernunft über den Profit.“

Die Mehrheit der Anwesenden hob die Hand. Iljuschin saß völlig in sich zusammengesunken auf seinem Stuhl. Seine Autorität wirkte nun hinfällig. Die Ordnung triumphierte über die Gier. Juro beobachtete, wie der General den Saal mit gesenktem Kopf verließ.

Später am Abend verließ Juro das Parlamentsgebäude. Er betrat die Magnetbahn für den Heimweg. Draußen im Licht der Stationsbeleuchtung schimmerten die Kuppeln der Wohnmodule im Rotfilter des Marslichts. Ein Kind auf dem Sitz gegenüber hielt eine Papierlaterne fest und lachte über ein Bild auf einem Pad. In den Fenstern der kleinen Wohnungen glimmten die Lichter der Adventskränze.

Juro spürte die Wärme in seiner Brust. Die Gesetze, für die er kämpfte, schützten diese kleinen, alltäglichen Momente vor dem Zugriff der Macht. Er dachte an den Geruch von Vanessas Mohnstrudel. Demokratie bedeutete mehr als nur Regeln. Sie ermöglichte das Überleben der Seele in einer Welt aus Metall und Stein.

Zu Hause angekommen, schloss Juro die Tür hinter sich ab. Er legte seine Brille auf den hölzernen Küchentisch. Die Flamme der kleinen Adventskerze brannte ruhig. Morgen warteten neue Aufgaben, neue Berichte und neue Versuche der Beeinflussung. Doch für diesen Augenblick herrschte Frieden in seinem Heim. Er nahm sich ein Stück des Mohnstrudels, den Vanessa ihm eingepackt hatte. Der süße Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus. Das Rohr blieb geflickt. Die Ordnung hielt stand. Juro betrachtete das Licht der Kerze, bis die Müdigkeit seine Lider beschwerte. Er hatte seine Arbeit erledigt. Die Maschine des Krieges schwieg.

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