Sonntag, 21. Dezember 2025

21. Dezember 3528: Der Orion-Fehler

 Auf der Thunderbolt, dem Flaggschiff einer Schwadron der interplanetaren Raumflotte 


Das graue Licht der Korridorbeleuchtung legte sich schwer auf Sophias Schultern. Sie rieb die Fingerkanten ihres Handschuhs am rauen Stoff des Oberschenkels trocken. Schmiere und Kühlflüssigkeit hinterließen dunkle Schlieren auf dem orangen Wartungsoverall. Vor ihr flimmerten die Anzeigen der primären Waffenstation der Thunderbolt. Das Blau der Bildschirme erinnerte an Gletschereis, kalt und abweisend. Ein stetiges, tiefes Wummern drang durch die Metallplatten des Bodens in ihre Stiefelsohlen. Der Fusionsreaktor im Heck trieb das Schiff durch die Leere, ein Herzschlag aus kontrollierter Gewalt.


Sophia zog die Revisionsklappe der Spulenkammer mit einem Ruck auf. Metall kreischte auf Metall. Der Geruch von Ozon und erhitztem Kupfer schlug ihr entgegen. Sie atmete flach, um den beißenden Geschmack auf der Zunge zu minimieren. Ihre Gelenke schmerzten. Jede Bewegung des Schraubenschlüssels forderte einen Tribut von ihren Muskeln. Seit Wochen lief die Thunderbolt im Alarmzustand. Die Schichten gingen ineinander über, getrennt nur durch kurze Phasen unruhigen Schlafs und den Konsum von koffeinhaltigem Gel.


In der Tiefe ihrer rechten Hosentasche drückte ein kleiner, harter Gegenstand gegen ihr Bein. Der Energiespeicherring von Orion Dynamics. Das Titan des Ringes speicherte die Körperwärme und gab sie nun als punktuelles Brennen zurück an ihre Haut. Sophia griff hinein. Ihre Finger umschlossen das kühle Metall. Die Kanten schnitten leicht in ihre Handfläche. Orion nannte es einen „Effizienzverstärker für Hochleistungsrelais“. Sophia nannte es eine Hintertür.


Sie richtete ihren Blick wieder auf die Diagnosekonsole. Eine Reihe gelber Codezeilen schob sich durch die standardisierten blauen Protokolle der Feuerleitkontrolle. Der Kontrast stach in den Augen. Sophia beugte sich vor. Ihr Atem beschlug kurz die Glasoberfläche des Monitors. Sie wischte das Kondenswasser mit dem Ärmel weg. Die gelben Zeilen ignorierten die Verschlüsselung der Flottenadmiralität. Sie bildeten einen direkten Kanal, der die Sicherheitsprotokolle der Railguns umging und stattdessen Koordinaten im zivilen Frachtsektor des Merkur ansteuerte.


Sophia tippte den Ursprungscode in das Suchfenster. Die Datenbank spuckte einen Namen aus: Q-Industries. Frachtmanifeste. Lieferungen von seltener Erde und Waffenkomponenten, getarnt als medizinische Hilfsgüter. Die Thunderbolt, ein Kriegsschiff der Föderation, diente als verherrlichter Bodyguard für illegale Waffenschieber.


Übelkeit stieg in Sophias Magen auf. Die Loyalität zur Uniform verlangte Gehorsam. Die Vorschriften besagten eindeutig, dass Befehle von oben absolute Gültigkeit besaßen. Doch die Realität auf dem Schirm erzählte eine andere Geschichte. Hier bereicherten sich Konzerne auf Kosten der Sicherheit der Kolonien. Der Ring in ihrer Tasche wog plötzlich Tonnen. Er repräsentierte die Wahl, die sie treffen musste. Wegsehen und funktionieren. Oder hinsehen und riskieren.


Schritte hallten auf dem Gitterrost des Laufstegs. Ein unregelmäßiger, hastiger Rhythmus. Liam bog um die Ecke der Munitionsbucht. Er trug seine Fliegerkombi offen, das Unterhemd klebte dunkel vor Schweiß an seinem Brustkorb. Er warf seinen Helm auf eine Kiste mit Projektilen. Das Scheppern hallte durch die Bucht.


„Die da oben drehen durch“, sagte Liam. Er fuhr sich mit beiden Händen durch das verklebte Haar. „Iljuschin brüllt die halbe Brücke zusammen. Er fordert die Freigabe der Batterien. Jetzt. Sofort.“


Sophia blieb stumm. Sie deutete auf den gelben Code auf ihrem Schirm. Liam trat neben sie. Der Geruch von altem Kaffee und Angst ging von ihm aus. Er starrte auf die Zeilen. Seine Augen verengten sich. Ein Muskel in seinem Kiefer zuckte.


„Q-Industries?“, fragte er. Seine Stimme klang rau, wie Schmirgelpapier. „Wir riskieren unsere Hälse für deren Gewinnmargen?“


„Sie nutzen uns als Relais“, sagte Sophia. Ihre Stimme blieb ruhig, doch unter der Oberfläche vibrierte die Wut. „Die Zielkoordinaten der Railguns decken sich exakt mit deren Flugrouten. Wenn wir feuern, schaffen wir ihnen einen Korridor. Iljuschin lässt uns den Weg freibomben.“


Liam schlug mit der flachen Hand gegen die Schottwand. „Wir müssen das stoppen.“ Er sah sie an. In seinem Blick lag eine Mischung aus Erschöpfung und wilder Entschlossenheit. „Wenn wir die Feuerfreigabe verweigern, landen wir vor dem Kriegsgericht. Meuterei.“


Sophia zog den Ring aus der Tasche. Das Titan schimmerte stumpf im Licht der Konsolen. „Keine Meuterei“, sagte sie. „Technische Störung. Ein bedauerlicher Defekt in der Induktionsspule.“



Der Plan verlangte Präzision. Liam positionierte sich am Schott zur Hauptzugangsschleuse. Er hielt sein Datenpad umklammert wie einen Schild. „Ich brauche Ablenkung“, murmelte er und tippte eine Sequenz ein. „Große Ablenkung.“


Über die Lautsprecheranlage des Schiffes knackte es. Statt der üblichen Statusmeldungen erklang plötzlich eine warme, fast schon gemütliche Stimme. Vanessa Desantis, die Logistikoffizierin. „Achtung, Besatzung der Thunderbolt. Hier spricht die Kombüse. Aufgrund der aktuellen Alarmstufe Orange und der damit verbundenen Wartezeiten starten wir die Übertragung der jährlichen Advents-Bäckerei etwas früher. Schaltet auf Kanal 4 für die Live-Demonstration des perfekten Mohnstrudels.“


Auf Sophias Hilfsmonitor ploppte ein Fenster auf. Das Bild zeigte Vanessa in einer strahlend weißen Schürze, umgeben von Mehlsäcken und Teigschüsseln. Der Kontrast zur sterilen Todesmaschinerie der Waffenbucht wirkte grotesk. Doch dann geschah etwas. Die Lüftungsschlitze über Sophias Kopf, normalerweise Lieferanten von kalter, recycelter Luft, transportierten plötzlich neue Moleküle.


Ein Duft schlich sich in die Bucht. Erst schwach, dann immer deutlicher. Warmer Hefeteig. Zimt. Gemahlener Mohn. Karamellisierter Zucker. Der Geruch legte sich über das Ozon und das Maschinenöl. Er weckte Erinnerungen an Küchen auf Planetenoberflächen, an Sicherheit, an Wärme.


Sophia schüttelte den Kopf, um den Fokus zu behalten. Sie kniete vor der offenen Spulenkammer. Der Reaktorkern der Railgun lag vor ihr, ein komplexes Geflecht aus Supraleitern. Sie musste den Ring exakt zwischen den Primärleiter und die Erdung setzen. Ein Millimeter Abweichung, und die Energie würde sie verdampfen statt umzuleiten.


„Beeil dich“, zischte Liam vom Eingang her. Er blickte nervös den Korridor hinunter. „Die Sicherheitstrupps patrouillieren. Die Hälfte von denen glotzt zwar auf ihre Pads und sabbert wegen des Kuchens, aber der Rest sucht nach Ärger.“


Sophia führte den Ring in das Gehäuse. Ihre Hände blieben ruhig, eine antrainierte Starre, die ihre innere Unruhe maskierte. Der Ring passte. Er klickte leise in die Halterung. Sofort begannen die kleinen LEDs auf seiner Oberfläche zu pulsieren. Sie synchronisierten sich mit dem Takt des Schiffes.


Plötzlich wechselte das Licht in der Bucht von Grau zu Rot. Ein heulender Ton durchschnitt die Luft. Alarmstufe Rot.


„Feuerbefehl!“, schrie Liam. Er wirbelte herum und presste den Rücken gegen den Türrahmen, als wollte er das Signal körperlich aufhalten. „Iljuschin hat die Autorisierung umgangen! Die Systeme fahren hoch!“


Das Summen in der Bucht schwoll an. Der Boden unter Sophias Knien begann zu vibrieren. Die Thunderbolt leitete Energie aus dem Fusionsreaktor in die Kondensatoren der Waffen. Gigantische Strommengen flossen durch die Leitungen. Sophia spürte die statische Aufladung an den Härchen ihrer Arme.


Sie griff nach dem manuellen Override-Hebel an der Spule. Jetzt. Sie musste den Kreis schließen, bevor die Kondensatoren voll waren.


Draußen im Gang hörte sie schwere Stiefel. Stimmen brüllten Befehle. Jemand hämmerte gegen ein Schott. Liam rief etwas zurück, eine Lüge über austretendes Kühlmittel und Kontaminationsgefahr.


Sophia umfasste den Hebel. Das Metall brannte vor Kälte. Sie riss ihn herum.


Ein gleißender, blauer Lichtbogen sprang zwischen dem Ring und der Spule über. Ein Geräusch wie reißende Seide erfüllte die kleine Kammer. Funken sprühten auf den Boden und versengten den Gitterrost. Sophia kniff die Augen zusammen und wandte das Gesicht ab. Der Geruch von verbranntem Ozon kämpfte kurzzeitig gegen den Zimtduft an.


Auf dem Monitor spielten die Anzeigen verrückt. Die Energie, bestimmt für einen tödlichen Schuss auf ein unklares Ziel, traf auf den Widerstand des Orion-Rings. Sie prallte ab, floss zurück, suchte sich neue Wege.



Sophia zog sich an der Konsole hoch. Ihre Beine zitterten. Sie starrte auf den Hauptschirm. Die gelben Codezeilen der Schmuggelroute leuchteten grell auf. Aber daneben öffnete sich ein neues Fenster. Ein direkter Feed aus dem Parlamentsbunker auf dem Mars. Juro Tanaka hatte sich in die Leitung geschaltet.


Das Bild war verwackelt, doch Sophia erkannte den Mann. Er stand in einem Sitzungssaal. Neben ihm auf dem Tisch lag ein unscheinbares Frachtlabel. Er hielt ein Datenpad in die Höhe, das exakt dieselben gelben Linien zeigte wie Sophias Konsole.


„Ich fordere Abbruch“, hörte Sophia Tanakas Stimme aus den Lautsprechern der Bucht, vermischt mit dem Heulen des Alarms. „Die Zielkoordinaten sind kompromittiert.“


Auf dem Bildschirm sah Sophia, wie General Iljuschin im Hintergrund rot anlief. Der General schlug mit der Faust auf den Tisch. Er brüllte etwas, das im Lärm unterging. Doch dann passierte es.


Die Rückkopplung der Thunderbolt erreichte das Netzwerk der Flotte. Die manipulierte Energie, die durch den Ring im Kreis lief, erzeugte ein Interferenzmuster in der Zielsoftware. Auf Sophias Schirm, und zeitgleich auf dem riesigen Hologrammtisch im Parlamentssaal, begann die Darstellung der taktischen Karte zu flackern.


Die blauen Punkte der Flotte lösten sich auf. Die roten Vektoren der Angriffsziele zerfielen in Pixel. Aus dem Chaos der Daten formte sich etwas Neues. Ein uralter Testalgorithmus, tief vergraben im Kernspeicher für grafische Fehlersuche, sprang an.


Mitten auf dem Schirm erschien ein grob gepixelter, grün leuchtender Weihnachtsbaum. Bunte Punkte blinkten an seinen Ästen. Ein 8-Bit-Soundfile, blechern und schief, spielte die ersten Takte von „Stille Nacht“.


Das Heulen des Alarms brach ab. Die Energiezufuhr zu den Waffen stoppte automatisch durch den Softwarefehler. Die Thunderbolt atmete aus. Das Dröhnen der Kondensatoren verebbte und hinterließ eine drückende Stille. Nur das Lüftungssystem summte weiter und pumpte unermüdlich den Duft von Vanessas Backstube in jeden Winkel des Schiffes.


Liam rutschte an der Türzarge herunter, bis er auf dem Boden saß. Er starrte auf den Monitor mit dem pixeligen Baum. Ein ungläubiges Lachen entwich ihm, leise zuerst, dann lauter. Er griff in die weite Beintasche seiner Kombi. Krümel rieselten auf den Gitterrost. Er zog ein in eine Serviette gewickeltes Stück Mohnstrudel hervor.


„Vanessa hat den Wagen vor dem Zugang stehen lassen“, sagte er und grinste schief. „Weniger Kanonen, mehr Kuchen.“ Er brach das Stück in zwei Hälften und hielt Sophia eine hin.


Sophia nahm das Gebäck. Ihre Finger waren immer noch schwarz von Öl und Ruß, doch das spielte keine Rolle. Sie biss hinein. Der Geschmack war intensiv. Süß, schwer und tröstlich. Er verdrängte den metallischen Geschmack der Angst.


Auf dem Bildschirm sah sie, wie im Parlament die Hände gehoben wurden. Abstimmung. Iljuschin sackte auf seinem Stuhl zusammen. Juro Tanaka nickte kurz in die Kamera, als wüsste er, dass am anderen Ende jemand zusah. Dann brach die Verbindung ab. Das Standardlogo der Flotte erschien wieder, ruhig und blau.


Epilog: Die Flamme


Stunden später saßen sie im Gemeinschaftsraum der Thunderbolt. Die Tische aus gebürstetem Stahl, sonst Orte karger Mahlzeiten und hastiger Besprechungen, wirkten verändert. Jemand hatte das Licht gedimmt.


Sophia saß am Ende einer langen Bank. Ihre Glieder fühlten sich schwer an, aber es war eine gute Schwere. Die Schwere getaner Arbeit. Vanessa trat hinter sie. Ein warmes, nach Lavendel duftendes Tuch legte sich über Sophias Nacken. Die Wärme drang tief in die verspannte Muskulatur ein. Sophia schloss kurz die Augen und ließ den Kopf sinken.


„Danke“, murmelte sie.


Vanessa drückte kurz ihre Schulter und ging weiter, um Tee auszuschenken. Liam saß gegenüber. Er schlief halb, den Kopf auf die verschränkten Arme gestützt. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Der Stress war von seinem Gesicht abgefallen und hatte den jungen Mann darunter freigelegt, der er eigentlich war.


Sophia griff in ihre Tasche. Die Stelle, an der der Ring gelegen hatte, war leer. Sie hatte das Bauteil wieder in den Schrank mit den Spezialwerkzeugen sortiert. Niemand würde danach fragen. Der Logbucheintrag verzeichnete einen „Spulenfehler durch Materialermüdung“. Eine plausible Lüge, die jeder gerne glaubte, weil sie weniger Arbeit machte als die Wahrheit.


In der Mitte des Tisches stand eine einzelne, dicke Adventskerze. Die Flamme tanzte im Luftzug der Klimaanlage. Kleines, gelbes Licht gegen die unendliche Schwärze draußen vor den Sichtluken. Sophia beobachtete den Docht. Das Wachs schmolz langsam, bildete einen See, nährte das Feuer.


Sie spürte keinen Triumph. Heldenmut gehörte in die Holo-Filme. Hier draußen gab es nur Entscheidungen und Konsequenzen. Sie strich mit dem Daumen über die Tischplatte. Die Welt blieb unvollkommen. Gierige Männer würden neue Wege finden. Q-Industries würde neue Frachtrouten planen. Aber heute Nacht schwieg die Maschine.


Das Summen des Schiffsantriebs klang nun wie ein Schlaflied. Die Thunderbolt hielt Kurs. Sophia blickte in die Flamme, bis das Flackern stetig wurde und mit ihrem eigenen Herzschlag verschmolz. Sie waren wach geblieben. Das genügte.

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